Aus: "anders leben" (Das Grüne Monatsmagazin), Nr. 3, April 1980

Sozialismus und Parlamentarismus

Dieses von Helmut Rüdiger vor 30 Jahren geschriebene und in Schweden veröffentlichte Buch ist durch den Ahde-Verlag für den deutschen Leser zugänglich gemacht worden. Es erweist sich angesichts der Oberflächlichkeit der Diskussionen über die Wahlbeteiligung grüner Listen als sehr nützlich.

Der deutsch-schwedische Autor hat durch eine originelle Weiterentwicklung anarcho-syndikalistischer Grundanschauungen die schwedische syndikalistische Gewerkschaft "Sveriges Arbetares Centralorganisation" (SAC) in einem starken Maß mitgeprägt. Der Text ist deswegen hilfreich, weil in ihm nicht nur grundlegende Einsichten in die Beschränktheit parlamentarischer Vertretungsorgane vermittelt werden, sondern auch praktisch verwertbare Strategien für die konkrete Arbeit aufgezeigt werden. Hierdurch wird einer passiven "Ohne-mich"-Haltung oder einem Desinteresse an wichtigen politischen Fragen entgegengetreten.

Helmut Rüdiger geht von der Überlegung aus, daß sich eine einzelne Person unmöglich zu allen kollektiven Angelegenheiten durch die Abgabe eines Stimmzettels äußern kann. Denn der Mensch lebt in verschiedenen gesellschaftlichen Einheiten z. B. in einer Familie, einer besonderen Berufsgruppe, in einem Wohngebiet, in einem Verein. Dies bedeutet, daß er eine Vielzahl von besonderen Interessen hat, die nur in kleinen speziellen Einheiten berücksichtigt werden können. Ein mehr oder weniger zufälliges Aggregat von Menschen, wie es bei einer Wahl vorzufinden ist , kann nicht durch einen Abgeordneten vertreten werden, weil diese Menschen unterschiedliche Interessen haben.

Helmut Rüdiger weist darauf hin, daß dieser Zustand von verschiedenen sozialistischen Richtungen als sehr unbefriedigend empfunden wurde und besonders die Anarchisten im Staatsgebilde nur eine unterdrückende Institution sahen. Da die Aussagen der meisten anarchistischen Theoretiker in der Zeit der absolutistischen Staatsformen entstanden sind, spricht Rüdiger ihnen für die damalige Zeit nicht die Berechtigung ab, im Staat ein eindeutiges Angriffsziel zu sehen. Doch dürfen wir nach seiner Ansicht nicht davor die Augen verschließen, daß der Staat heute für viele Menschen keine Unterdrückungsmaschine mehr ist, sondern eine Vielzahl sozialer Funktionen ausübt.

Wenn die Kritik am Staat den neuen sozialen Verhältnissen angepaßt werden soll, dann müssen wir verstärkt die Einengung der persönlichen Freiheit, die Verhinderung eines natürlichen Lebens und die Gefahren der Bürokratie in den Vordergrund stellen. Dabei sollten wir darauf achten, daß bei brennenden politischen Problemen nicht die Verkündung abgehobener Ideen und pauschale Globalforderungen gefragt sind, sondern praktisch durchführbare Vorschläge und Maßnahmen.

Wer in diesem Sinne arbeiten will, tut dies am zweckmäßigsten in der kleinsten räumlichen Einheit, in der Gemeinde. Im kommunalen Rahmen läßt sich eine Erneuerung des Vertretungssystems am ehesten durchsetzen und durchführen. Es würde sich nach den Funktionen, die die Menschen in kleinen überschaubaren Lebens- und Arbeitsbereichen ausüben, richten.

In diesen Gruppen spielt sich der größte Teil des gesellschaftlichen Lebens ab, und es ist klar, daß sich die Menschen am ehesten in diesem Rahmen für politische und soziale Fragen interessieren. Dadurch, daß keine parteipolitischen Machtintereesen, sondern konkrete Aufgaben vertreten werden, wandeln sich die vom Staat ausgeübten Funktionen in gesellschaftlich wirklich Nutzbringende.

Helmut Rüdiger zeigt einen Weg auf, wie durch Zusammenarbeit organisierter Bürger die kommunale Selbstverwaltung erweitert und hierbei das politische Machtinteresse der parlamentarischen Parteien am ehesten zurückgedrängt werden kann. Mit der Fragestellung "Wahlbeteiligung - Ja oder Nein?" und "Liegen die Grünen richtig ?" wird im Vorwort von Hans-Jürgen Degen auf die neuesten Entwicklungstendenzen in der Ökologiebewegung eingegangen. Die hier vorgeschlagenen dezentralen alternativen Energieversorgungskonzepte haben die unabdingbare Voraussetzung, daß die Bevölkerung in der Lage ist, in kleinen kommunalen Einheiten alle wichtigen Aufgaben selbständig wahrzunehmen.

Helmut Rüdiger hat Vorstellungen, die sich heute ein Teil der Alternativbewegung zu eigen macht, schon vor 30 Jahren inhaltlich vorausgedacht.

Helmut Rüdiger: Sozialismus und Parlamentarismus – Ein Diskussionsbeitrag. AHDE-Verlag, 1 Berlin 61, Postfach 129. 91 Seiten, DM 9.-

Anmerkung:

Dieser Artikel erschien auch in: "Studien von Zeitfragen", Mai 1980

 

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