Aus: "Grünes Info", Monatszeitung des NRW-Landesverbands der Grünen, Nr. 7 – 8, 1985

Der Verrat der Grünen und seine Folgen

Spannungen und Unverträglichkeiten zwischen dem Politikverständnis der Bürgerinitiativen und grüner Parlamentsarbeit haben von Anfang an bestanden. ln einem atemberaubenden Tempo hat sich der Prozeß einer wechselseitigen Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen in den letzten Monaten zu einer tiefgehenden gegenseitigen Entfremdung entwickelt.

Grünes InfoViele Grüne vertreten die Grundforderungen der Bl-Bewegung nicht mehr, sondern nehmen Zuflucht zu fragwürdigen Kompromissen mit den Herrschenden. Wichtigtuerische Politstrategen jeglicher Couleur haben das ganz große Sagen. Statt "von unten auf" als politisches Leitmotiv gilt das altbekannte und längst in der Überwindung geglaubte "von oben herab" mehr denn je. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Energischer Widerstand von der unabhängigen Bl-Bewegung ist zu erwarten.

Einige Vorboten des Sturms seien zur gefälligen Kenntnisnahme angeführt: Der BINKA-Rundbrief Nr. 42 der Bl-Niederrhein berichtet über das Verhalten der Grünen bei einem Die-In vor dem Sitzungsraum des Ausschusses für Zivile Verteidigung in Krefeld:

"Groß war aber unsere Enttäuschung, als wir feststellen mußten, daß es in Krefeld offensichtlich kaum noch Grüne gibt, die sich an solchen nichtparlamentarischen Aktionen beteiligen wollen (können). Noch größer war aber der Zorn, feststellen zu müssen, daß einige herausragende Persönlichkeiten der Grünen uns von der gemeinsam geplanten Aktion abhalten wollten, wie sie es durch gezielte Falschinformationen schon vorher bei einem Vertreter der Friedensliste geschafft hatten. Frage an alle Grünen-Mitglieder: Warum wird eine politische Aktion schlecht? Weil zu viele Nichtgrüne daran beteiligt sind oder weil Ihr durch den täglichen Umgang mit Repräsentanten aus Rat, Verwaltung‚ CDU und SPD Skrupel bekommen habt, angreifbar zu sein?"

In der Dortmunder Stadtzeitung "Klüngelkerl" (Mai 1985) schreibt der "Öko-Haufen" zur Atommüllkonferenz am 12. April in Ahaus:

"Die vier anwesenden Grünen räsonnierten zwar über dünne Erfahrungen mit der Anti-AKW-Bewegung, mußten aber schließlich zugeben, über Einzelheiten, die bei Verhandlungen mit der SPD nach dem 12. Mai von ungeheurer Wichtigkeit sein könnten, nicht viel zu wissen. Außer ein paar Plattitüden zu Kalkar kam dann die Entschuldigung, man/frau sei eben durch die Vertretung von vielen Bl-Anliegen überfordert.(...) So also stellen die Grünen sich das vor: Jetzt kommen die Grünen und schwupp kippt das Atomprogramm in NRW. Welche Naivität muß da mit im Spiel sein! Oder ist es Desinteresse an einem Kampf, in dem man/frau seine eigenen Wurzeln nicht mehr sieht? Oder schlicht Arroganz? Eine Bewegung brauchen wir nicht mehr ....?"

Das Rundschreiben 6/85 des Anti-Atom-Büros protokolliert zur Atommüllkonferenz: "Die Grünen baten dringend darum, diese Widersprüche zwischen Anti-AKW-Bewegung und ihnen nicht per Presseerklärung an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, da das ihre Wahlchancen schmälere, und doch auch den AKW-Gegnern daran gelegen sein müsse, daß die Grünen im Landtag vertreten sind."

Grünes Info, 1985Reformistische Neuorientierung mit Machtoption

In der Diskussion nach der NRW-Wahl zeichnet sich innerhalb der Grünen folgende Tendenz ab: Fundis, Realos und Ökosozialisten analysieren nur aus dem Blickwinkel einer taktischen, d.h. opportunistischen Haltung heraus, um die Wählergunst wiederzuerlangen. Die nach der NRW-Wahlniederlage lediglich anvisierten graduellen Veränderungen und thematische Umorientierungen im eigenen Politikverständnis lassen die Ebene des Überbaus der Grünen Partei, d. h. den Angriff auf sich herausbildende Macht- und Medieneliten, außen vor, in der Hoffnung selber vom großen Kuchen etwas abzubekommen.

Radikale Forderungen der Bl´s werden allenfalls als Waffe im innerparteilichen Weltanschauungsclinch gegen Konkurrenten benutzt. Nur wenige kümmern sich noch ernsthaft um das mühselige Geschäft der direkten Vermittlung zwischen selbstorganisierter Basisarbeit der BI’s und ihrer konsequenten Umsetzung in den Parlamenten. Statt die grundsätzliche vorherrschende Orientierung auf eine abgehobene Politikform anzugreifen, möchten selbst die Fundis und Ökosozialisten die besseren Unterhändler sein: mit ihnen wäre in Hessen bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD mehr herausgeschlagen worden.

Anpassung statt bewegungsorientierte Politik

Eigenes Handeln, ohne und gegen die lnstitutionen, sich die Form des Widerstandes nicht von der Gegenseite vorschreiben lassen - das alles ist kein Thema mehr!

Es ist offensichtlich: Die herrschende Politik der Grünen geht vollständig an den Bedürfnissen und Interessen der Bürgerinitiativen vorbei. Stattdessen überschwemmen vagabundierende Möchtegernpolitiker mit ihrem unsäglichen Geplärr über "systemüberwindende Realpolitik", die es nur mit grüner Regierungsbeteiligung geben kann, den grünen Blätterwald.

Es ist eine historische Tatsache, daß die SPD durch radikale Bewegungen und nicht durch Koalitionen zur Korrektur ihrer Politik gebracht wird. 1969 wurde die CDU ja nicht deswegen von der SPD abgelöst, weil die FDP koalierte, sondern weil vorher die 68er Bewegung den Boden für eine reformistische Wende bereitet hat. Alles, was heute in den Augen grüner Reformisten mit der SPD für durchsetzungsfähig gehalten wird, geht auch ohne grüne Koalitionspartner oder "Duldung".

Die engen Systemgrenzen für antikapitalistische Politik werden nicht einfach durch das Hinzunehmen der Grünen in eine Koalition weiter gesteckt. Systemgrenzen werden vielmehr durch ganz und gar unkoalitionsmäßige Initiativen gesprengt!

Für die heutigen Grünen wird es allerdings zunehmend schwieriger, eine solche Art der Politik zu betreiben. Ein großer Teil der inhaltlichen Festlegungen der Verbandspolitik wird nicht mehr von der Masse der Mitglieder getroffen, sondern von Gremienhockern, die sich hochgedient und eine ihnen eigene Sicht der Dinge entwickelt haben. Um von der Gegenseite anerkannt und erhört zu werden, sind sie moderat im Ton geworden und unterziehen die ursprünglichen Kernforderungen einer gründlichen Revision: Das Grundanliegen der Abschaffung aller Atomanlagen wird fein wissenschaftlich in Dutzende von Teilaspekten zergliedert. Einzelne Aspekte werden als für die SPD annehmbar und als beachtlicher Fortschritt ausgegeben. Diejenigen, die auf eine grundsätzliche Abschaltung von Atomanlagen beharren, werden von den ehemals eigenen Leuten als utopische, politikunfähige Schwärmer denunziert!

Verrechtlichte Konflikte und eine komplizierte und schwer durchschaubare Materie eignen sich hervorragend als Tummelplätze für Verhandler und Koalierer: Ein dichter Nebel umhüllt die Frage, ob der ausgehandelte Kompromiß noch ein Weg hin zur Stillegung von Atomanlagen ist oder schon eine grüne Duldung bedeutet. Über diese Frage, die natürlich schon längst keine mehr ist, wird dann als Ablenkungsmanöver ein dilettantischer Streit inszeniert, bei dem Fundis und Realos sich so richtig austoben können. Die Würfel in Richtung Systemintegration sind indes längst gefallen.

Nun gibt es ja Leute, die diesesSpiel nicht mitspielen wollen. Ihre Einbindung in den grünen Reformismus erfolgt dann durch großzügige Vergabe von Untersuchungen und Studien für arbeitslose Wissenschaftler, finanzielle Unterstützung für Prozesse und alternative Projekte. Wahlstimmen werden nicht mehr durch Überzeugung gewonnen‚ sondern erkauft. Normalerweise nennt man so etwas Lobby- und Klientelpolitik.

Bisher hat die BI-Bewegung zähneknirschend den scheibchenweisen Ausverkauf ursprünglich grüner Inhalte mit angesehen, in der Hoffnung, daß sich das einmal ändert. Diese Hoffnung war trügerisch. Sollten die Grünen auf dem Weg des Reformismus weitergehen, werden wir sie genauso wie alle anderen Parteien behandeln müssen. Das heißt‚ wir werden sie nicht nur nicht mehr wählen, sondern auch die konkreten Auswirkungen ihrer Politik bekämpfen!

Nachwort:

Ein Jahr nachdem dieser Artikel in der Mitgliederzeitschrift "Grünes Info" erschien, wurde diese "viel zu kritische" Monatszeitung vom NRW-Landesvorstand der Grünen finanziell und politisch kalt- und letztendlich eingestellt zugunsten eines neuen, weniger bissigen Magazins. Ich war damals nicht nur Mitglied in der Redaktion, sondern auch Verantwortlich für die Buchführung des Blattes.

1986 erschien von mir der Artikel "Den radikalen Bruch mit den Grünen organisieren" in der anarchistischen Vierteljahreszeitschrift "Schwarzer Faden" und sorgte zusätzlich innerhalb der NRW-Grünen für eine gewisse Aufregung:

http://www.machtvonunten.de/parteien-und-parlament/70-den-radikalen-bruch-mit-den-gruenen-organisieren.html?hitcount=0

Ich selbst war übrigens nicht Mitglied der Grünen. - Wohl aber in der kommunalen Wählergemeinschaft "Grün-Alternative Liste" in Hamm. Über meine desillusionierenden Erfahrungen auf der untersten kommunalen Politikebene als Bezirksvertreter in Uentrop (Standort des THTR) und als Ratsherr in Hamm (zwei Jahre) berichtete ich unter anderem in dem Artikel "Von unten auf!" in dem Heft 25 der Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft (ebenfalls erschienen im THTR-Rundbrief Nr. 97): http://www.reaktorpleite.de/nr.-97-februar-05.html

Meine 1980 in der Nullnummer von "Schwarzer Faden" gestellte Frage "Wahlboykott – der Weisheit letzter Schluss?", in der ich die Beteiligung an Kommunalwahlen unter gewissen Umständen noch tendenziell befürwortete, hat sich nach den negativen Erfahrungen von 1984 bis 1989 für mich recht eindeutig beantwortet. Aber trotzdem, hier ist der Artikel von 1980:

http://www.machtvonunten.de/parteien-und-parlament/88-wahlboykott-der-weisheit-letzter-schluss.html

2013: Eine schwarz-grüne Koalition in Hessen. Es kommt also noch schlimmer.

 

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