Musik
Graswurzelrevolution Nr. 268, April 2002:
Chernobyl
von Brave Old World
Eine Erzählung über Kummer und Leid
trug sich zu in dem Land des KGB.
Dort, in der Mitte der Ukraine,
lässt sich die Sonne nicht mehr nieder.
Ich werde die ungeschminkte Wahrheit mitteilen:
In Chernobyl beim Pribyat-Fluß,
brauch die Sonne nicht scheinen -
alles strahlt schon selbst.
Energie ist großartig,
aber jemand hat einen kleinen Fehler gemacht
dort in dem stolzen Land der Russen,
haben sie fast die Welt eingeschmolzen.
Alles ist unter Kontrolle, prima,
sagte das Politbüro, aber
sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite
hatte jeder Angst, Milch zu trinken.
Und seit der Schweinerei an dem Pripyat,
hat die ganze Welt Angst vor Salat.
Von Kamchatka nach Kanada,
muß jeder Limonade trinken.
Na und, was habe ich mit diesem Ort zu tun?
Es waren Juden, die ursprünglich dort lebten.
Heute, an den Gräbern unserer Vorfahren,
tanzt ein neuer Todesengel.
Denk nicht, daß so etwas nur
in einem weit entfernten Land passieren kann:
Laß es in Kiew oder Detroit sein,
der Tod wird dich gleichermaßen einholen.
*******
A maysele fun okh un vey, hu-tsa-tsa, hu-tsa-tsa,
Pasirt in land fun KGB, hu-tsa-tsa, hu-tsa-tsa,
Dort in mith ukraine, hu-tsa-tsa, hu-tsa-tsa,
Rut zikh sheyn nit mer di shkhine, hu-tsa-tsa, ....
Zogn zog ikh aykh dem pshat,
Az in Tshernobil baym Pripyat
Darf die shkhine mer nit rien:
Fun zikh aleyn tut alts sheyn glien.
Energye, oy, síz a prakht!
Nor a toyesl hot men gemakht:
Dort in land fun rus dem shtoltsn
Hot men die velt shir nit farshmotsn.
Alts in ordnung, kharasho!
Hot gezogt Politbyro,
Nor baym rekhtn un baym linkn
Hot men moyre, milkh tsu trinken.
Die Sprache
"Man hat hier im Lande Jiddisch-Veranstaltungen gesprengt, Leuten die Fenster eingeschlagen, Kioske angezündet, die jiddische Bücher und Zeitschriften verkauften, der Kampf gegen Jiddisch wurde brutal geführt." (1) So zitierte Henryk M. Broder Mordechai Tzanin 1986 und die Rede war nicht etwa von Deutschland, sondern von dem zukünftigen und in Gründung befindlichen Land Israel!
Jiddisch, in vielen Berichten auch als "Nahsprache des Deutschen" bezeichnet, ist in Wirklichkeit eine eigenständige Fusionssprache (2), die im Hochmittelalter in Mitteleuropa gesprochen wurde. Sie setzte sich damals aus dem Mittelhochdeutschen, altfranzösischen und altitalienischen Dialekten zusammen, der später hebräische, slawische und andere Redewendungen hinzugefügt wurden. Das "Judendeutsch" wurde von den Zionisten in Palästina abgelehnt, weil sie in ihm die Sprache der Mörder und der Nazis sahen. Auch deswegen sprach die große Mehrheit in Israel hebräisch und nur noch eine Viertelmillion (1986) Jiddisch. Diese Sprache wurde 1946 weder bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen in Deutschland zugelassen, noch dürfen bis heute jiddische Schriftsteller in Israel im Schriftstellerverband Mitglied werden (3). Schon Kafka knüpfte an die kleine, deterritorialisierte Sprache Hoffnungen auf eine Subversion sprachlicher, politischer und sozialer Ordnungen (4). Andererseits stand das anarchische Jiddisch, auch liebevoll als "mamloschen" bezeichnet, für ein tief empfundenes Heimatgefühl. In den letzten Jahren wurde von einigen Kritikern gefragt: "Wie soll eine Tradition, die keine Lebenswelt mehr hat - das Durchschnittsalter der jiddischen Autoren liegt bei 80 bis 85 Jahren - fortgesetzt werden? Mehr noch: Wozu?" (5)
Die Antwort könnte darin liegen, dass die jiddisch sprechenden Ultraorthodoxen in Israel auch zahlenmäßig eine immer wichtigere Rolle spielen. - Und darin, dass sich seit Anfang 1990 immer mehr junge jüdische Amerikaner der Klezmer-Musik ihrer vor vielen Jahren aus Osteuropa gekommenen Großeltern zuwenden.
Die Musik
Vor 1939 lebten allein in der Ukraine zwei Millionen Juden. Anfang der 90er Jahre nur noch 350.000.(6) Die im deutschsprachigen Gebiet beheimatete aschkenasische Kultur wurde im Mittelalter nach Osteuropa weiterverbreitet. Die ursprüngliche Musik mit ihren "Lejts", Hochzeitsspaßmachern, Witzeerzählern und Tänzern verband sich mit der improvisatorischen und wärmeren osteuropäischen Musikform zur Klezmer-Musik. Die Klezmerkapelle bestand oft aus bis zu zwölf Musikern, die neben der obligatorischen Fidel auch Trompeten, Hörner und Saiteninstrumente spielten. Bei feierlichen Anlässen, wie zum Beispiel Hochzeiten, wurden in einer dynamischen und verzierungsreichen Spielweise verschiedene Phrasen zu musikalischen Einheiten verschmolzen. Ottens und Rubin weisen in ihrem preiswerten und äußerst lesenswerten Buch "Klezmer-Musik" (Bärenreiter Verlag/DTV) auf die "strenge Intensität" dieser Darbietungen hin. Der ausgeprägte "Klassenstolz" der Klezmorim, eine tragende Säule im sozialen Leben der Juden einzunehmen, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie unzählige Demütigungen seitens der Nichtjuden ausgesetzt waren. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung stellten sie den untersten Rang der Hierachie dar. Sie wurden "vergöttert und verachtet" zugleich.
Die prekäre Lage der Klezmer-Musiker verschlimmerte sich seit 1905, da ab diesem Zeitpunkt aufgrund verstärkter antisemitischer Pogrome sich die Auftrittsmöglichkeiten reduzierten. Als sich der im Kreis Tschernobyl geborene Musikforscher Mojsche Beregowski (1892 - 1961) daran machte, tausende von Liedern zu dokumentieren, war die Hochzeit der Klezmer-Musik in Osteuropa bereits vorbei. Und auch in Amerika, wohin Jahrzehnte vorher viele Musiker ausgewandert sind, stagnierte die Klezmer-Kultur. Es dauerte bis zum Beginn der 90er Jahre, bis diese Musik von einer jüngeren Generation wiederentdeckt wurde.
Die Lieder
Das hier abgedruckte Lied "Chernobyl" stammt von der ersten CD der Gruppe "Brave Old World" "Klezmer Music", die 1991 erschien. In der Gegend von Tschernobyl war im 18. und 19. Jahrhundert diese Musik zuhause und es wundert nicht, dass der Musikethnologe Beregowski im benachbarten Kiew die Abteilung Musikfolklore an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften übernahm. Das Lied rechnet mit dem Staatssozialismus und der unerhörten Schlamperei von Atombehörden und Verantwortlichen ab und benennt konkret auf wessen Kosten und mit welchen Folgen weltweit die "friedliche Nutzung der Atomkraft vonstatten ging.
Bei der zweiten CD "Beyond the Pale" wurde die Gruppe wohl aufgrund äußerer Anstöße noch ein wenig politischer. Die Hatz der frisch "wiedervereinigten" Stolzdeutschen auf Ausländer hat die amerikanische Band "Brave Old World" bei ihren häufigen Deutschandaufenthalten hautnah mitbekommen und singt nachdenklich: "Aufs neue treibt ihr jene weg von den Türen, verjagt sie schon wieder durch Nächte von Kristall. Oj, was für eine Chuzpe, sich so zu benehmen! Wir sollen Euch das vergessen, verzeihen?" Die vier Musiker spielen hauptsächlich auf den Instrumenten Geige, Klarinette, Akkordeon, Klavier, Bass und Zimbalon eine Musik, die sich zwar an der alten Klezmermusik orientiert, sich aber wie zeitgenössische Jazzensemble ihre eigenen, sehr oft brillianten Ausdrucksformen sucht.
Die Anarchisten
Auf eine ähnliche Weise musiziert die ebenso populäre Band "Klezmatics". Auf ihren CDs kann mensch einige Kampf- und Arbeiterlieder der jüdischen Bevölkerung finden. Beispielsweise "In Kampf aus dem Jahre 1890 von David Edelstadt, Redakteur der in jiddischer Sprache geschriebenen anarchistischen "Freien Arbeiterstimme", die bis zum Jahre 1977 in den USA existierte und über die Augustin Souchy in "Akratie" Nr. 10 (1978) berichtete. Diese an mehreren Punkten inhaltlich am Anarchismus orientierte Musikgruppe ist aber keineswegs darauf zu reduzieren, dass sie inzwischen verstaubte Arbeiterlieder singt. Ihr von der jiddisch sprechenden Anarchistin Emma Goldmann entliehenes Motto "Wenn du nicht dazu tanzen kannst, ist es nicht meine Revolution" drückt dies unmißverstänlich aus. Ohnehin ist der Einfluß der Anarchisten auf die internationale jüdische Arbeiterbewegung erheblich gewesen. Emma Goldmann schrieb anerkennend über die Arbeit des Anarchosyndikalisten Rudoph Rocker beim "Arbeiter-Freund": "Der führende Kopf der Arbeit im East End war Rudolph Rocker, ein junger Deutscher, er bot das merkwürdige Phänomen eines nichtjüdischen Herausgebers einer jiddischen Zeitung" (7) Und auch die Frau Rockers, Milly Rocker kam aus dem 200 Kilometer von Tschernobyl entfernten Slatopol.
Die Kritik
Das Klezmer-Revival der letzten 10 bis 20 Jahren hat mit dem 1999 erschienenen bereits erwähnten Buch von Ottens/Rubin eine vehemente Kritik erfahren: "So ist aus der anfänglichen Aufbruchstimmung des Klezmer-Revivels, getragen von Idealismus und Entdeckerlust, letztendlich ein alternatives postmodernes Anatevka geworden und keine Revolte, die als Subkultur der jüdischen Metropolen die künstlerischen Impulse der Zukunft bestimmte und als ethnische Selbstbehauptung neue Wege auch in der allgemeinen Kunst aufgezeigt hätte. Im Gegenteil: Nach über zwanzig Revivel-Jahren gilt als Maßstab für ein erfolgreiches Klezmer-Konzert, wenn ein Publikum von den reichen blauhaarigen Witwen bis zu den hippen Downdown-Juden von Manhatten mitklatscht, mitsingt und tanzt und sich zur Feier seiner gemeinsamen Herkunft aus dem Ghetto Osteuropas vereint. Die einstigen Ideale einer hochspezialisierten, professionellen Tradition mit ihrer spezifischen Spielweise und Aufführunspraxis wurden durch die Ideologie einer anti-elitären und anti-modernen Grassroots-Bewegung ersetzt."(8)
In vielen Berichten ist zu entnehmen, dass jüdische Repräsentanten - insbesondere in Deutschland - ein ungutes Gefühl beschleicht, wenn sie sehen wie sich "Versöhnung" umstandslos mit einer möglichst schnellen Vergangenheitsbewältigung paart. Insbesondere wird von den Autoren die Rolle von Giora Feidmann kritisiert, der die Klezmertradition gar nicht vertritt, sondern lediglich seine eigene Philosophie. Denn er "tritt in Kirchen, Weihnachtssendungen, im Bundestag, bei der deutschen "Grand Prix d' Eurovision"-Vorentscheidung und in der Wagner-Festspielstadt Bayreuth auf.
Vergleicht man Feidmann in seiner Rolle als Versöhner, der demonstrativ die Musik des Antisemiten Wagner im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau spielt, und den Klezmer-Virtuosen Josef Gusikow, so ergeben sich gewisse Paralellen, die der Klezmermusik eine historische Rolle in Deutschland zuweisen: Sowohl Gusikow als auch Feidmann sind den positiven mythisch-jüdischen Figuren zuzurechnen. (...) Sein Erfolg wird bedingt von einem gesellschaftlichen Klima, in dem sich einerseits eine neue Haltung zur deutschen Vergangenheit herausbildet und andererseits das Ausland den Umgang mit Juden und Ausländern in Deutschland weiterhin als Gradmesser für die Vergangenheitsbewältigung Deutschlands und seine zukünftige Einbindung in die Weltpolitik ansieht. Die Rolle der Klezmer-Musik bleibt in diesem Prozeß eine rein symbolische". (9)
Der Linken und der Grassroots-Bewegung pauschal und undifferenziert den Drang nach einem "alternativen postmodernen Anatevka-Spektakel" und plumpe Vereinnahmungsbestrebungen für alles Jüdische zu unterstellen, ist reichlich übertrieben. Sicherlich gab es auch solche Vorfälle: "Der Handzettel mit dem drohenden Titel 'Ostjuden unter uns' stammt von einer Berliner Veranstaltung am 9. November 1991 zum Gedenken an die Pogromnacht. Die in gelb und schwarz gehaltene Grafik im Stürmer-Stil warb für eine Veranstaltung zum Gedenken an einen Akt, der den Beginn von Deutschlands Krieg gegen das europäische Judentum darstellte. Die nichtjüdische Gruppe, deren Sängerin jiddische Lieder und jiddische Witze in übertriebenem Pseudo-Jiddisch vortrug und eine Beschäftigung mit jiddischen Musiktraditionen nicht erkennen ließ, wurde als 'Tradenten der jiddischen Musikkultur' vorgestellt." (10) Das war 1991.
Auch heute noch gibt es dutzende sogenannte Klezmer-Bands, deren Selbstdarstellung auf rein folkloristischer Ebene erfolgt und deren musikalische Qualität zu wünschen übrig lässt. Die Menschen, die heute Veranstaltungen organisieren und sich für deutsch-jüdische Verständigung engagieren, sind allerdings nicht die Schlechtesten in diesem Land. Auch wenn ihr Wissen um Klezmermusik den enormen Ansprüchen eines umfassend forschenden Spezialisten verständlicherweise nicht in vollem Umfang genügen kann. Wir haben es in Deutschland mit eben diesen Menschen zu tun und können uns keine "Besseren" basteln oder per Dekret verordnen. Wie anders als durch vorsichtiges und stetiges Bemühen kann bei der für Juden sicherlich sehr niederschmetternden Gegenwart (Vergangenheit sowieso) eine Annäherung an diese Musik erfolgen?? Das ist ein widersprüchlicher Lernprozess, indem hoffentlich immer mehr Menschen die von Otten und Rubin eingebrachten Argumente verarbeiten und verstehen lernen.
Der Versuch, die Originalität und Eigenständigkeit der jiddischen Kultur herauszustellen ist angesichts der unsäglichen Verhunzung der Klezmermusik durch auf einer Modewelle schwimmende Musikgruppen verständlich. Es sollte aber nicht dazu verführen, Reinheitsgebote in Musik und Kulturleben einzuführen. Experimentierfreudige, qualitativ hochausgereifte Gruppen wie Brave Old World (der Rubin in der Anfangsphase selbst angehört hatte), Klezmatics und Kroke zeugen von einer ausgesprochenen Vitalität und Erneuerungsfähigkeit, die ich sehr begrüße. Gleichzeitig sollte die Wiederaneignung und Rekonstruktion der ursprünglichen Klezmermusik nicht in einem unauflöslichen Gegensatz zu ihrer Weiterentwicklung stehen.
Anmerkungen:
1. Henryk M. Broder in: Die Zeit, 30. 5. 1986
2. Rita Ottens, Joel Rubin: "Klezmer-Musik", Bärenreiter Verlag dtv,S. 40; 19,80 DM.
3. FAZ, 5. 5. 1995
4. Süddeutsche Zeitung, 7. 10. 2000
5. Freitag, 16. 7. 1999
6. Freitag, 1. 10. 1993
7. Emma Goldmann "Gelebtes Leben", 1978, S. 290
8. Ottens/Rubin, S. 296
9. Ottens/Rubin, S. 300
10. Rita Ottens: "Der Klezmer als ideologischer Arbeiter" in "Neue Zeitschrift für Musik" Nr. 3, 1998
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