Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 202, November 1995
Jacques Brel: Die Spießbürger (Les Bourgeois)
"Mir tut jeder leid, der nicht mit zwanzig Anarchist war". An dieses bekannte Zitat von Clemenceau hat Jacques Brel vielleicht gedacht, als er 1962 das Chanson "Die Spießbürger" (auf Französisch: "Les Bourgeois") zum ersten mal vortrug. Jugendliches Aufbegehren gegen verkrustete Strukturen und konservative Wertvorstellungen finden in der bürgerlichen Gesellschaft manchmal verständnisvolle FürsprecherInnen. Sie können es sich leisten: Ein umfangreiches Arsenal von Disziplinierungs- und Anpassungsinstrumentarien steht bereit, um dem rebellischen Spuk nach ein paar Jahren ein Ende zu bereiten.
In der ersten Strophe verbringt Brels Protagonist seine Freizeit mit seinen Freunden im leicht verruchten Halbweltmilieu. Der Durchschnittscharakter des jugendlichen männlichen Rebellen wird von Brel in seine verschiedenen Erscheinungsformen zerlegt. "Voltaire" prangert soziale und politische Mißstände an. "Casanova" setzt sich offensichtlich über die Normen der herrschenden Sexualmoral hinweg (auf wes- sen Kosten, wird nicht thematisiert).
Brels Protagonist steht scheinbar über den Dingen und gibt sich der Illusion hin, einzigartig zu sein. Als Hassobjekt werden nicht zufällig drei Notare ausgemacht. Die Vertreter dieser Berufsgruppe, deren Aufgabe es ist, die Eigentumsrechte der "Besitzenden" zu beurkunden, treffen sich im Hotel "Zu den drei Fasanen". Allein der Name läßt erkennen, daß es sich hier um den Versammlungsort biederer Bürger handeln muß. Wer denkt bei dieser Hotelbezeichnung nicht an den "röhrenden Hirsch" hinter dem Wohnzimmersofa an der Wand? Der Spottgesang gegen die drei Notare will diese der Lächerlichkeit preisgeben und doch wird schon hier der zukünftige Werdegang der Spötter beschrieben: "Je älter sowas wird, desto blöder wird es" läßt in dieser absoluten Aussage keine Alternative zu - auch nicht für drei vermeintliche Rebellen.
In der zweiten Strophe wird wie in der ersten mit "das Herz voller Wärme" noch einmal das Postulat der Brüderlichkeit der Menschen untereinander bekräftigt, aber der Umschwung deutet sich im folgenden an. Durch variierende Wiederholung in jeder Strophe stellt Brel die Wandlung der Freunde mit nur wenigen veränderten Worten dar. "Voltaire tanzt wie ein Vikar", das heißt im Klartext: der radikale Vorkämpfer für die Freiheit verwandelt sich in diesem Chanson in einen braven "Hilfsgeistlichen".
In diesem Zusammenhang offenbart sich erneut Brels hintersinnige lronie, denn Voltaire (1694 -1778) wurde als Sohn eines Notars geboren und betätigte sich als Anwalt. Er galt wegen seiner Kritik an den Mißständen des Absolutismus als geistiger Wegbereiter der Französischen Revolution – und endete als "aufgeklärter" Gutsherr auf seinen ausgedehnten Besitztümern Ferney und Tourney in der Nähe von Genf.
Am Schluß der zweiten Strophe kommt der Spottgesang auf die Spießbürger nur noch unter der enthemmenden Wirkung größerer Mengen Alkohol über die Lippen. Ähnlich wie bei frustrierten Stammtischrunden wird hier nur noch folgenlos Dampf abgelassen:
In der letzten Strophe haben sich die inzwischen zu Anwälten aufgestiegenen drei mit der herrschenden Ordnung abgefunden und verbringen ihre Abende in dem Hotel der ehemals verachteten Spießbürger. Sie haben sich als handelnde Subjekte aufgegeben und räsonieren ohne jedes eigene Engagement über Gott und die Welt.
Inzwischen sind sie selbst zum Gespött der Generation geworden und beklagen sich ausgerechnet bei einem Vertreter der Staatsgewalt ("Herr Kommissar") über deren freches Verhalten. Zum Abschluß krächzt Brel ein letztes Mal ohne Musikbegleitung den neuen Spießbürgern voller Hohn ihre ehemalige Hymne vor: "Die Spießbürger sind wie die Schweine ..."
In diesem Chanson fällt das völlige Fehlen von Zukunftsvorstellungen der drei Freunde auf. Was hatten sie für politische Ziele? Sie werden an keiner Stelle konkret benannt. Über die Artikulation des Lebensgefühls und die Bezeichnung der Spießbürger als "blöde" kamen sie nicht hinaus. Entsprechend schnell gaben sie ihre ursprüngliche oppositionelle Haltung auf.
Der damals 33jährige Jacques Brel lebte in dem Widerspruch zwischen Opposition und dem Genuß der Vorteile des materiell abgesicherten bürgerlichen Lebens. Weil er beide Seiten gut kannte, konnte er das Spannungsverhältnis so treffend in seinen Chansons anklingen lassen. "Die Spießbürger" war einer seiner ersten großen Erfolge, die der gebürtige Flame in Frankreich und Belgien hatte. 1967 zog er sich aus der immer stärker kommerzialisierten Chansonindustrie zurück. Erst kurz vor seinem Tode im Jahre 1978 nahm er noch einmal Chansons für seine letzte Schallplatte auf.
Die Spießbürger
Das Herz voller Wärme
Die Augen im Bier
Bei der fetten Adrienne aus Montalant
Mit Freund Jojo
Und mit Freund Pierre
Begossen wir unsere zwanzig Jahr
Jojo hielt sich für Voltaire
Und Pierre für Casanova
Und ich der ich der Stolzeste war
lch hielt mich für mich selbst
Und als gegen Mitternacht die Notare vorbeigingen
Die aus dem Hotel "Zu den drei Fasanen" kamen
Zeigten wir ihnen unsern Arsch und unsre guten Manieren
Und sangen ihnen zu
Je älter sowas wird, desto blöder wird es
Die Spießbürger sind wie Schweine
Je älter sowas wird, so wird’s um so ...
Das Herz voller Wärme
Die Augen im Bier
Bei der fetten Adrienne aus Montalant
Mit Freund Jojo
Und mit Freund Pierre
Nahmen wir Abschied von unsren zwanzig Jahren
Voltaire tanzte wie ein Vikar
Und Casanova traute sich nicht
Und ich der ich immer noch der Stolzeste war
Ich war fast so besoffen wie ich
Und als gegen Mitternacht die Notare vorbeigingen
Die aus dem Hotel "Zu den drei Fasanen" kamen
Zeigten wir ihnen unsen Arsch und unsre guten Manieren
Und sangen ihnen zu
Die Spießbürger sind wie Schweine
Je älter sowas wird, desto blöder wird es
Die Spießbürger sind wie die Schweine
Je älter sowas wird, so wird's um so ...
Das Herz voller Ruhe
Die Augen auf dem Boden der Tatsachen
An der Bar des Hotels "Zu den Drei Fasanen"
Mit Herrn Anwalt Jojo
Und mit Herrn Anwalt Pierre
Vertreiben wir uns unter Notaren die Zeit
Jojo spricht von Voltaire
Und Pierre von Casanova
Und ich der ich der Stolzeste geblieben bin
Ich spreche immer noch von mir
Und wenn wir herauskommen Herr Kommissar
Strecken uns jeden Abend aus der Kneipe der Montalant
Junge "Arschgeigen" ihren Hintem hin
Und singen uns zu
Die Spießbürger sind wie Schweine
Je älter sowas wird, desto blöder wird es
Die Spießbürger sind wie Schweine
Je älter sowas wird, so wird's um so ...
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