Aus: "Graswurzelrevolution" Nr. 229, Mai 1998
Fiedel Michel: "Die Wacht an der Lippe"
Das Domizil der Folkloregruppe Fiedel Michel lag in den 70er Jahren ungefähr auf halbem Wege zwischen dem Standort des Thorium-Hochtemperatur Reaktors (THTR) in Hamm und dem Brennelemente-Zwischenlager (BEZ) Ahaus, wo heute sein Atommüll gelagert wird, im Münsterland. Durch Auftritte unterstützte die Gruppe damals die allerersten Gehversuche der Anti-AKW-Bewegung in Westfalen.
Widerstand gegen Atomkraftwerke stieß in dieser Gegend auf besonders große Schwierigkeiten. Entweder wurde die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten vorwiegend von dem Duo CDU/Bauernverband oder in den Städten eher von sozialdemokratischen Organisationen geprägt. Gemessen an den heutigen computergestützten Möglichkeiten der Kommunikation, griffen wir Mitte der 70er Jahre noch zu fast archaisch anmutenden Mitteln, um die Bevölkerung für Umweltthemen zu sensibilisieren.
Neben dem Üblichen (Flugblätter usw.) war beispielsweise eine auf Kirmes- und Marktplätzen vorgetragene Moritat über die ach so gräßlichen Folgen der Atomkraft durchaus nicht unüblich. Noch heute aktuell sind jedoch unsere Methoden des gewaltfreien, direkten Widerstandes, die wir durch die behutsame und umsichtige Beratung einiger Graswurzlerlnnen kennengelernt hatten.
Schon unsere erste Besetzung des Platzes am lnformationszentrum der Betreiber wurde mit Flugblättern für Polizei und Presse, sowie Rollenspielen für die Demonstrantlnnen, gut vorbereitet. Während die Polizistlnnen friedlich die Würstchen von unserem Stand aßen, hatten wir die Gelegenheit für unsere Informationsveranstaltung auf dem Platz (siehe auch GWR Nr. 25/26, 1976).
Der während dieser Aktionen entstandene Liedtext von Fiedel Michel weist natürlich ein paar Stellen auf, die wir heute bestimmt nicht mehr so formulieren würden. Der gewöhnliche Apotheker mit seinen höchst zweifelhaften Produkten der Pharmaindustrie wird inzwischen kritischer gesehen, sodaß wir nicht mehr pauschal die Empfehlung aussprechen würden: "Drum hört den Apotheker, der laut und deutlich spricht ...".
Der forsche Aufruf "Hier wird ein Platz besetzt!" erwies sich in späteren Jahren als nicht ganz unproblematisch. Nach den Ereignissen in Brokdorf und Grohnde 1976/77 geriet die Fixierung auf Bauplatzbesetzungen immer mehr zu einem Hemmnis für die Weiterentwicklung der Bürgerinitiativbewegung. Der Staatsapparat hatte sich auf diese Aktionsform eingestellt, sodaß sie zu einer Schlacht am Bauzaun verkam.
Die Graswurzelwerkstatt, damals in Kassel, gehörte mit ihrem vieldiskutierten Artikel "Was machen wir mit all den Plätzen - besetzen?" am 9. 1. 1977 mit zu den Ersten, die die Reduzierung des Anti-AKW-Kampfes auf den Einsatz gut ausgerüsteter Technikergruppen am Bauzaun gründlich problematisierte. Wie der Widerstand gegen die Castor-Transporte heute zeigt, wiederholen sich bestimmte Diskussionen. ln weiten Kreisen der Anti-AKW-Bewegung blieben jedoch der Mythos "Platzbesetzung" viele Jahre bestehen: sie erschien vielen Menschen als Faustpfand für einen wirksamen Widerstand unerläßlich und es wirkte so schön und heldenhaft, wenn man sich vor dem Bauzaun ins Schlachtengetümmel stürzte.
Wahrscheinlich ahnten viele gar nicht, wie sehr sie durch ihr unkritisches, letztenendes auf militärische Formen der Konfliktbearbeitung orientiertes Verhalten an den Ursprung dieses Liedes anknüpften: Es hat eine Geschichte, die bis in das Jahr 1840 zurückreicht. In jenem Jahr veröffentlichte der schwäbische Kaufmann Max Schneckenburger seine "Wacht am Rhein", um mit patriotischen Versen gegen den "Erzfeind" Frankreich mobil zu machen. Ob im Krieg 1870 oder 1914 die vertonten Zeilen "Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall" wurden von Millionen nationalistisch verhetzten Deutschen gesungen. Es war die Begleitmusik des deutschen Militarismus auf seinem Weg, Millionen Menschen ins Unglück und in den Tod zu stürzen.
Doch schon 1918 wurde das nationalistische Lied vom inzwischen kriegsmüden Volk umfrisiert. Dem obersten Repräsentanten des verhaßten Regimes riefen die Menschen zu seinem Abschied hinterher: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall, Kaiser Wilhelm sitzt in’n Schweinestall".
Bekannter als diese Quelle des Liedes war vielen Menschen in den 70er und 80er Jahren, daß sich während des Widerstandes gegen das geplante Atomkraftwerk in Whyl im Jahr 1974, einige MusikerInnen (auch Walter Mossmann) auf das alte Lied besannen und neue Strophen dichteten: "lm Elsaß und in Baden war lange große Not, da schossen wir für unsere Herren im Krieg einander tot. Jetzt kämpfen wir für uns selber in Whyl und Marckolsheim. Wir halten hier gemeinsam eine andre Wacht am Rhein."
ln Zusammenarbeit mit vielen Menschen, die bei den Platzbesetzungen und anderen Aktivitäten dabeiwaren‚ entstanden mindestens 14 Strophen, in denen auch Lokalpolitiker und Konzernbosse ihr Fett abbekamen. Für einige Jahre gehörte der gesungene Aufruf zur Platzbesetzung an so ziemlich allen AKW-Standorten - gleich, an welchem Fluß die Wacht zu halten war - zum Standardrepertoire bei vielen öffentlichen Aktivitäten. Neue, ortsbezogene Strophen kamen hinzu. So auch Hamm/Westfalen.
Die Wacht an der Lippe
ln Uentrop und Schmehausen
da wollen sie wieder bau'n
und um den Platz vom Kernkraftwerk
steht schon ein hoher Zaun.
Doch wenn die VEW glaubt,
daß wir das mitanseh'n
ganz ohne uns zu wehren,
nein, so wird das nicht geh'n.
Bei dem Erörterungstermin
da war’n sie freundlich nett,
aber mit der Wahrheit,
da spielten sie Versteck.
Sie wollten uns wohl fangen
für ihr Atomkraftwerk,
doch wir, wir sagen's allen,
wir haben es gemerkt.
Stellt euch auf uns’re Seite
hier wird ein Platz besetzt
hier schützen wir uns vor dem Dreck
nicht morgen, sondern jetzt!
Und kommt der Staatsanwalt
und kommt die Polizei
und kommen sie im Morgengraun -
uns ist das einerlei.
Wir sind uns nämlich einig
und werden immer mehr
und wenn wir uns mal einig sind,
dann stört uns das nicht mehr!
Drum hört den Apotheker,
der laut und deutlich spricht:
Es gibt für vieles Medizin,
für Strahlenschäden nicht.
Stellt euch auf uns’re Seite
hier wird ein Platz besetzt
hier schützen wir uns vor dem Dreck
nicht morgen, sondern jetzt!
Aus der LP: Fiedel Michel: "Live", 1976
Anmerkung:
Im Sommer 1976 demonstrierten acht Bürgerinitiativen im Münsterland gegen den geplanten THTR in Hamm-Uentrop mit einem Zeltlager. Dabei sind auch Strophen zu "Die Wacht am Rhein" entstanden, hier genannt "Die Wacht an der Lippe". Auf der Homepage Reaktorpleite kann man das Lied unter "Historie" (ganz unten!) anhören:http://www.reaktorpleite.de/historie.html
Weitere Infos über "Fiedel Michel": http://de.wikipedia.org/wiki/Fiedel_Michel
http://www.fiedel-michel.de/index.html
Da staunte ich nicht schlecht: Am Strand von La Gomera spielte 2016 Thomas Kagermann (in der Mitte mit der Geige) zusammen mit zwei weiteren Musikanten (hier mit Maria Papai und Alexander Horsch, dem "Erforscher" der vierzigtausend Jahre alten Knochenflöte in Ungarn) auf. Kagermann spielt wunderbar mit den "Los Parranderos" und Juan Mesa aus La Gomera zusammen. Und ebenfalls mit sehr verschiedenen MusikerInnen aus aller Welt in der Pianobar der Gomera Lounge, wo es jeden Tag tolle Livekonzerte gibt. - Wunderbar!
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