Aus: "... Zufällig einen trockenen Weißen offen?", Anthologie, Hg. von der Schreibwerkstatt der VHS Hamm, August 1994
JUGENDZENTRUM TOT
In der Hausdruckerei von "Westfälischer Anzeiger" in Hamm wurde in den 70er Jahren die rechtsradikale "Nationalzeitung" gedruckt und im WA für sie mit Anzeigen geworben.
Der Angstschweiß stand mir auf der Stirn, meine Hände zitterten. Von der Tür aus beobachtete ich den dunklen Treppenaufgang. Würde uns jemand entdecken? Hektisch hantierte Rainer an den Apparaturen. Er hatte noch mehr Grund, nervös zu sein als ich . Hier war sein Arbeitsplatz.
Insgeheim machte ich mir Vorwürfe. Das Plakat hätte woanders gedruckt werden können. Aber nein, ich sagte zu ihm: "Du bist doch Drucker, kannst du nicht heimlich ... ? Wir müssen sofort reagieren und noch heute Nacht kleben!" Die Stadt hatte es abgelehnt, den Bau des Jugendzentrums zu finanzieren. Ich brannte darauf, es den Herrschaften gehörig heimzuzahlen. Rainer zögerte zunächst, lenkte dann ein. "Aber du mußt mitkommen und Schmiere stehen, alleine mach ich das nicht."
Die Augen der Runde sahen uns erwartungsvoll an. Da hatte ich mir ja was Schönes eingebrockt. Während die anderen noch über dem Flugblattentwurf brüteten, gingen wir zum Anzeiger.
Mit dem Ausruf "Ja was sollen wir bloß auf das Plakat schreiben?" riß mich Rainer aus meinen Gedanken. Keine Ahnung. Ratlosigkeit. Dann sein schlichter wie rettender Einfall: "Jugendzentrum tot!" Genau. Er arbeitete eifrig weiter, während ich ängstlich an der Tür auf und ab ging. Nach zwei Stunden endlich fertig. Rote Leuchtfarbe, wasserfest, stabil. Die halten eine halbe Ewigkeit. Wir rollten sie zusammen und nichts wie weg.
Was sah ich denn da? In halbdunklen Gängen dicke Zeitungsbündel. Die "Nationalzeitung". Tausende. - "Tja, die drucken wir auch hier" sagte Rainer und fügte entschuldigend hinzu, "aber dafür kann ich nichts". Die Zeit war knapp, wir gingen weiter. Rainer öffnete ahnungslos die Tür zum Maschinensaal. Ein Dutzend Arbeiter blickte erstaunt auf. Der Anzeiger wurde schon gedruckt.
Erwischt? Entsetzen packte uns. Entschlossen preßte Rainer die Plakatrollen an sich und stürmte mit hastigen Schritten durch den Saal. Ich folgte ängstlich, wagte weder nach links noch nach rechts zu schauen. Die rettende Tür. Geschafft! Mit einem lauten Krachen schlug sie zu. Wir standen mit dem Rücken zur Wand und sahen uns schreckensbleich an. Dann jubelten wir befreit "Jetzt kann uns nichts mehr passieren!" und liefen zu den anderen, denen wir stolz die Plakate zeigten. In kleinen Gruppen zogen wir los und klebten die ganze Nacht.
Anmerkung:
Die Anthologie "... zufällig einen trockenen Weißen offen?" erschien auf 32 Seiten in einer Auflage von 500 Exemplaren. Es handelte sich um Geschichten und Gedichte von neun AutorInnen.
In den 70er Jahren wurden im "Westfälischen Anzeiger" (WA) mehrere Anzeigen der "Nationalzeitung" abgedruckt. Plaziert wurden sie innerhalb der Texte verschiedener redaktioneller Beiträge. Das hier dokumentierte Beispiel erschien am 14. November 1975.
Diesen Vorgang und diese Anzeige dokumentierte ich bereits in den Ausgaben 51/52 im April 1995 von "THTR-Rundbrief" auf den Seiten 34 bis 39. Komplettiert wurde dieser Beitrag durch nachgedruckte Artikel aus der TAZ über den WA-Herausgeber: "Tippen für Ippen" (18. 5. 1992) und "Gott hat mich zum Verleger gemacht" (7. 8. 1986).
Die wasserfesten Plakate "Jugendzentrum tot!" konnte man übrigens noch nach über 10 Jahren an manchen Stellen in Hamm sehen.
Anmerkung, Teil 2
Am 20. Dezember 2019 ist die allerletzte Ausgabe der "National-Zeitung" erschienen.
Die Wochenzeitschrift "Jungle World" schrieb dazu am 16. 1. 2020 in dem Artikel "Tschüss, Drecksblatt":
"Die rechtsextreme »National-Zeitung« wurde nach 69 Jahren eingestellt. Zwar liegen Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsfälschung weiterhin im rechten Trend – doch den bedienen heutzutage andere schneller". Hier ist der ganze Artikel einsehbar:
https://jungle.world/index.php/artikel/2020/03/tschuess-drecksblatt
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"Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein." (Karl Marx am 5. Mai 1842 in "Rheinische Zeitung")
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