Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 345, Januar 2010
Zum Tod von Theo Hengesbach
(Mitbegründer der Bürgerinititiven gegen den THTR in Hamm und Umgebung)
Am Anfang stand eine Kontaktanzeige in Ausgabe 17 der Graswurzelrevolution im Jahre 1975, um MitstreiterInnen gegen Atomkraftwerke zu finden. Theo Hengesbach und Renate von der Gewaltfreien Aktion Arnsberg bereiteten zwecks Aufnahme des Studiums ihren Umzug nach Dortmund vor. Sie setzten sich mit den Gefahren von Atomkraftwerken auseinander und zogen praktischerweise gleich in die "Höhle des Löwen".
Dortmund war der Sitz der Vereinigten Elektrizitätswerke, die für den Bau des Thorium Hochtemperaturreaktors (THTR) in Hamm verantwortlich waren. In der Hammer Gruppe der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG/VK) wurde die "Graswurzelrevolution" gelesen und sehr bald kam es zu einem intensiven persönlichen Meinungsaustausch.
Wenige Wochen später, noch vor der eigentlichen Gründung der Bürgerinitiative Umweltschutz zogen wir mit fünf Leuten und einem vier Meter hohen Skelettgerüst, Plakaten und Flugblättern durch die Hammer Innenstadt. Ich bekam einen Fotoapparat in die Hand gedrückt und fotografierte, denn für Samstagvormittags war kein Fotograf oder Journalist aufzutreiben. Zwei Tage später titelte fast die gesamte Ruhrgebietspresse "Zum ersten Mal Straßenprotest gegen Uentroper Kernkraftwerk".
Ab jetzt ging alles ganz schnell. Bürgerinitiativen waren damals ein neues Phänomen, über das wir wenig wussten. Neue Strukturen mussten aufgebaut, neue Aktionsformen ausprobiert werden. Theo brachte in seinem Koffer nicht nur die Blättchen und Boschüren der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen mit, die uns ein oder zwei Jahre voraus waren. Sondern auch Bücher von Gandhi, Tolstoi und Kropotkins "Gegenseitige Hilfe". Mit letzterem Titel deutete sich schon damals an, dass er nicht bei abstrakten Aufrufen stehenbleiben würde, sondern praxisorientierte Gemeinwesenarbeit sein weiteres Leben ausfüllen würde.
Unsere erste Platzbesetzung im Jahre 1976 hat Theo mit uns minutiös vorbereitet. Neben dem teuren Atom-Propagandazentrum der VEW in Uentrop stellten wir unser Infozelt nicht irgendwie einfach so auf, nachdem der Stacheldrahtzaun überwunden wurde. Sondern es gab für Jede/n der über hundert "BesetzerInnen" ein spezielles Vorbereitungsblatt mit Handlungsempfehlungen: Immer offen für ein freundliches Gespräch sein – und dabei aber standhaft bleiben. Ein Blatt für die Polizisten: Wir sind gewaltfrei und wollen auch euch vor der Radioaktivität schützen. Zusätzlich noch ein Extra-Blatt für die JournalistInnen, in dem die Hintergründe der Aktion erklärt wurden. Und für die neugierigen ZuschauerInnen gabs neben dem Infozelt einen Würstchengrill.
Er machte uns vor, wie man sich in Presseerklärungen und Gesprächen so ausdrückt, dass die meisten Menschen verstehen und nachvollziehen konnten, worum es uns ging. Geduldig erklärend, höflich, aber auch nachdrücklich und bestimmt. Dies ebenfalls zu tun, war oft richtig anstrengend. In den folgenden Jahren versuchten viele andere politische Gruppen und Parteien uns als Bürgerinitiative zu vereinnahmen oder uns bestimmte (pseudo-)militante Aktionen oder einen verbalradikalen Sprachstil aufzuzwingen.
Theo hingegen war ein ganz anderer Mensch. Er verhielt sich angenehm zurückhaltend und rücksichtsvoll. Mit ihm zusammen sahen viele von uns die ungezügelte "Freude am erregenden Tun" (Gandhi) kritisch und versuchten bei dem damals weitverbreiteten Brokdorf-Hype einen klaren Kopf zu behalten. Was hatte es für einen Sinn, wenn zehntausende Menschen viele hundert Kilometer weit für ein paar Stunden zu den vermeindlichen Kristalisationspunkten des Anti-Atom-Widerstandes fuhren, aber vor ihrer eigenen Haustür seltsam wenig in Bewegung brachten und veränderten?
Als zehn Jahre später im Jahre 1986 der grosse Störfall im THTR die Menschen in der Region beunruhigte, pochten westfälisch-eigensinnig die "Bauern und Verbraucher gegen Atomkraft" auf ihr Recht, ihren Widerstand bei Blockaden und Besetzungen gewaltfrei so zu gestalten, wie sie selbst es wollten – und hatten nach drei Jahren Erfolg damit. Für manche Andere in der Anti-Atombewegung waren wir mit unserem "bürgernahen" Auftreten zu langweilig, nicht revolutionär und spektakulär genug.
Als wir uns diese bitteren Vorwürfe immer wieder anhören mussten, dachte ich oft an die Anfangsjahre zurück, in denen Theo ähnliche Zuschreibungen mit Gelassenheit und der Gewissheit ertrug, dass Jahrzehnte später die Geschichte aufgrund der Faktenlage ein objektives Urteil fällen wird.
Theo hat uns in Hamm - es gab ja in den 70er und 80er Jahren weder Internet noch Mailbox - hunderte (!) von Briefen mit Zeitungsausschnitten, Aufmunterungen, Anregungen und Strategievorschlägen zugeschickt. In dem "Info für gewaltfreie Organisatoren", der eher internen Zeitschrift der GraswurzelrevolutionärInnen, analysierte er in einer jeweils mehrseitigen Artikelfolge über 19 Ausgaben hinweg die Entwicklung des Widerstandes gegen den THTR. Fachbeiträge in "Gewaltfreie Aktion" vom Versöhnungsbund kamen noch hinzu.
Wenn auch die BauzaunkämpferInnen verächtlich auf die unscheinbare kleine gewaltfreie BI in Hamm herabblickten – FriedensforscherInnen und BewegungsarbeiterInnen werteten unsere Erfahrungen und Experimente mit Hilfe von Theos kritisch-solidarischen Berichten mit grossem Interesse aus.
Als 2007 in Dortmund der internationale Urankongress stattfand, schaute er mal wieder vorbei, um uns wiederzusehen und um Anteil an einer kraftvollen Bewegung zu nehmen, die er massgeblich vor 34 Jahren in Gang gesetzt hat. Es ist unsagbar traurig, dass er die nächsten Jahrzehnte nicht mehr erleben kann.
Anmerkung
Theo Hengesbach schrieb in dem "Info für gewaltfreie Organisatoren" 19 Artikel über Gründung und erste Aktivitäten der Bürgerinitiativen gegen den THTR, die hier eingesehen werden können:
Ein weiterer, sehr interessanter Nachruf, der noch ganz viele weitere wichtige Aspekte von Theo Hengesbachs Leben anspricht, ist hier nachzulesen:
http://www.graswurzel.net/345/theo.shtml
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