Aus: "FUgE-News", Nr. 2, Dezember 2017
Tamilische Kurzgeschichten "Bananenblätter und Straßenstaub"
In kaum einer Stadt der BRD gibt es soviele Hindutempel wie in Hamm. Der Krieg in Sri Lanka war die Ursache, dass zehntausende Tamilen aus Sri Lanka nach NRW flüchteten und im Laufe der Zeit vier Tempel auf dem Stadtgebiet errichteten. Unter den zahlreichen Menschen, die zu den jährlich stattfindenen Tempelfesten kommen, befinden sich erfreulicherweise immer mehr Deutsche, die fasziniert die prachtvollen Umzüge mit den Tempelwagen besuchen, die angebotenen südindischen Speisen probieren und religiösen Ritualen beiwohnen. Oft fotografieren und filmen sie die offensichtlich als exotisch wahrgenommenen Szenen ausgiebig aus allernächster Nähe.
Doch wieviel wissen die alteingesessenen Hammer Bürger nach dem Besuch eines solchen südindischen Festes über die Kultur dieser Menschen, die alltägliche Realität in ihrem Heimatland und über den brutalen Krieg, dem sie entflohen sind, wirklich?
Eine gute Möglichkeit mehr über die Tamilen in Südindien und Sri Lanka zu erfahren, ist das Lesen von Kurzgeschichten aus dieser Region selbst. Der Vorteil der hier vorgestellten Anthologie "Bananenblätter und Straßenstaub" liegt darin, dass die beiden Übersetzerinnen vor jeder der 14 Geschichten in einem Vorwort den jeweiligen Kontext erläutern und zusätzlich den Lebensweg der Autorinnen und Autoren skizzieren. Das erleichtert die Einordnung und das Verständnis der Texte sehr. Seit der letzten Phase der britischen Kolonialzeit sind Kurzgeschichten in tamilischer Sprache durch ihre alltagsnahen Themen mitsamt Lokalkolorit und ihrer leichten Zugänglichkeit in der Bevölkerung immer beliebter geworden, sodass eine lebendige Literaturszene entstanden ist.
Um an unseren in Hamm vorherrschenden Erfahrungshintergrund anzuknüpfen, erwähne ich als erstes die Geschichte, die ein intensives Stimmungsbild über ein großes hinduistisches Tempelfest in Tamil Nadu vermittelt. Es wird dargestellt, dass bei diesem Event der kulinarische Genuss oft sehr begrenzt ist, weil die auf Bananenblättern gereichten Speisen teuer und minderer Qualität sind. Die alten meditativen Ragas werden immer mehr durch die beliebten lauten Songs aus bekannten Filmen abgelöst und verändern den Charakter des Festes.
Die vom Volk wie Halbgötter verehrten Bollywood-Filmstars nutzen ihre Popularität manchmal, um groß in die Politik einzusteigen. Eine weitere Kurzgeschichte zeigt aber auch, dass das launenhafte und arrogante Benehmen einer Filmdiva bei den Filmaufnahmen im "schmutzigen" Reisfeld bei der als Statisten engagierten einfachen Bevölkerung gar nicht gut ankommt und dem eingebildeten Star gehörig die Meinung gesagt wird.
Bedrückend wird es bei dem Thema Frauendiskriminierung. Viele Schriftstellerinnen thematisieren dieses Problem in den Kurzgeschichten. Selbst ein kleiner Junge, dessen Vater gestorben ist, terrorisiert seine Mutter auf das Übelste, weil sie nun gezwungen ist, für den Lebensunterhalt zu arbeiten und dort mit Männern zusammenkommt, was konservativen Moralvorstellungen widerspricht.
Einen tiefen Einblick erhalten die Leserinnen und Leser dieses Buches ebenfalls in das Kastensystem, das durch ein ausgefeiltes Vorrecht- und Diskriminierungssystem selbst bei völlig alltäglichen Verrichtungen zu komplizierten Verwicklungen und zu haarsträubenden Ungerechtigkeiten führt. Wie es sich für gute Literatur gehört, wird das Problem einerseits aus der Sichtweise der privilegierten Bramahnen und andererseits aus der Sicht der unteren Kastenangehörigen dargestellt. Die egozentrische Haltung der zu Wohlstand gekommenen Mittelschicht gegenüber sehr armen Menschen verarbeiten die in sozialen Belangen sensiblen Autorinnen und Autoren ebenfalls anschaulich.
Zwischen 1983 und 2009 fand in Sri Lanka ein verheerender bewaffneter Konflikt zwischen den separatistischen Tamil Tigers und dem singhalesisch-buddhistisch dominierten Staat mit etwa einhunderttausend Todesopfern statt und führte zu massenhaften Fluchtbewegungen nach Europa und Kanada. Die elende wirtschaftliche Lage der aus Südindien zugewanderten "Teeplantagen-Tamilen" im zentralen Hochland, die verzweifelte Situation in den Flüchtlingslagern und das Ringen um die wirtschaftliche Existenz inmitten des Krieges sowie die Diaspora sind dominierende Themen der Beiträge aus Sri Lanka.
Glücklicherweise kommt trotz aller geschilderten Widrigkeiten in diesem Band der nuancierte Blick auf die Vielfalt und Vitalität der tamilischen Kultur und der hintergündige Humor der Tamilen nicht zu kurz.
Das wir uns auf diese differenzierte und kunstvoll-literatische Weise in ihre Situation hineinversetzen können, verdanken wir neben den beiden hervorragenden Übersetzerinnen auch dem ambitionierten Draupadi Verlag. Während viele große Verlagshäuser fast nur bekannte und einfach zu übersetzende englischsprachige Autorinnen und Autoren veröffentlichen, organisiert und druckt der kleine Heidelberger Verlag Übersetzungen aus den 21 anerkannten Regionalsprachen Indiens und ist damit ganz nah an der vielfältigen Lebenswirklichkeit der Menschen.
Die Sprache Tamil wird immerhin von etwa 80 Millionen Menschen gesprochen und die tamilische Literatur kann auf eine mehr als 2000-jährige Geschichte zurückblicken. Die Präsenz der Tamilen in Hamm eröffnet uns die Möglichkeit, Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis näher kennenzulernen. Dieses Buch hilft dabei, sie besser zu verstehen.
"Bananenblätter und Straßenstaub. Tamilische Kurzgeschichten aus Indien und Sri Lanka". Übersetzt von Eveline Masilamani-Meyer und Nina Rageth. Draupadi Verlag, Heidelberg, 2017, 140 Seiten, 15,00 Euro
Die Autoren der Kurzgeschichten sind: Akilan, Nanjil Nadan, Jyothirllata Girija, Jeyamohan, Sujatha, Vannanilavan, Bama, Dilip Kumar, S. Ponnuthurai (Es Po), Mathtalai Somu, Thamaraichchelvi, Balaranjanee Sarma, Shobasakthi, Appadurai Muttulingam
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