Aus: Graswurzelrevolution Nr. 357, März 2011

"Hausboot am Nil" in stürmischen Gewässern
Über die Schwierigkeit, in Ägypten ein "Revolutionär" zu sein

"Die Stimme Khalids meldete sich 'Mein Interesse gilt dem Anarchismus.' Gelächter brach aus. Dann herrschte Schweigen, eine Pause folgte, und die Leere nahm überhand" (1)

In seinem Roman "Das Hausboot am Nil" beschrieb der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus (1911-2006) das resignativ-opportunistische Verhalten von im Beruf durchaus erfolgreichen Menschen, die keinen Mut und keine Energie mehr hatten, gegen die versteinerten Verhältnisse einer nur notdürftig verschleierten Diktatur anzukämpfen. Sie flüchteten sich stattdessen in den allabendlichen Haschischgenuss auf dem Hausboot und lamentierten fruchtlos und ohnmächtig über die seit Jahrzehnten andauernden schlechten Verhältnisse.

Die 1966 geschriebene Geschichte handelt während der Zeit des "arabischen Sozialismus" von 1952 bis 1970, in der zu Beginn Oberst Nasser mit Hilfe von Armee, Kommunisten und Muslimbruderschaft den ägyptischen König Faruk gestürzt hatte und durch sowjetische Militär- und Aufbauhilfe, Sozialprogramme und einer gehörigen Portion Rhetorik zunächst der Zustimmung in der Bevölkerung recht sicher sein konnte. Durch verschiedene militärische Niederlagen gegen Israel, seinen autokratischen Führungsstil, überhandnehmende Bürokratie und den Einsatz von Unterdrückungsapparaten gegen KritikerInnen verspielte er teilweise seinen ursprünglichen Sympathiebonus.

Auch die nächsten Jahrzehnte unter Sadat (1971 bis 1981) und Mubarak (ab 1981) war die illustre Gesellschaft, bestehend aus KünstlerInnen, RechtsanwältInnen, BuchhalterInnen und BeamteInnen, auf dem "Hausboot am Nil" eine gerne genutzte Umschreibung für die Unfähigkeit und die Angst der Intellektuellen, gegen die ägyptischen Diktaturen Widerstand zu leisten.

Bodenständiger Chronist Ägyptens

Der 1911 in Kairo geborene Nagib Machfus wurde mit seinen realistischen und zum Teil drastischen Darstellungen der schwierigen Lebensumstände der einfachen Bevölkerung und des Mittelstands in seinem Viertel zum Chronisten der Geschichte Ägyptens, ja ganz Arabiens. Der bodenständige Machfus verliess Kairo nur selten und Ägypten nur zweimal in seinem Leben. Den Literaturnobelpreis nahm er 1988 nicht persönlich entgegen.

Nicht nur, weil er die vorislamische Pharaonenzeit Ägyptens in einigen Romanen wiederaufleben ließ, sondern vor allem, weil sein berühmtes Buch "Kinder unseres Viertels" die verschiedenen Symbolfiguren der Religionen für eine neue Romanhandlung nutzte, machte er sich beim strenggläubigen Establishment unbeliebt.

Die Darstellung des Scheiterns der verschiedenen religiösen Heilserwartungen in "Kinder unseres Viertels" als Fortsetzungsroman in der Regierungszeitung "Al-Ahram" bewirkte 1959 zahlreiche Proteste von religiösen Eiferern. Der Roman konnte erst 1967 in Beirut als Buch gedruckt und in Ägypten nur unter dem Ladentisch verkauft werden.

In seinen Romanen dringen oft Reichtum, Macht und staatliche Repression in das von alten Bindungen geprägte Gefüge der Kairoer Altstadt ein, lösen die alten Strukturen auf und bedrohen die Sanften und Friedfertigen. In dem Roman "Die Midaq-Gasse" verdient ein "Knochenbrecher" seinen Lebensunterhalt damit, dass sich arme Menschen von ihm verstümmeln und die Augen ausdrücken lassen, um mehr Mitleid zu erregen und besser betteln zu können.

Bereits als Student schrieb Machfus in der von 1929 bis 1942 erschienenen "Die neue Zeitschrift" (2) des Sozialisten und koptischen Christen Salama Mussa. Mehrere Jahrzehnte später war Machfus allerdings vom zur Staatsdoktrin erhobenen Nasser-"Sozialismus" sehr enttäuscht. Die Linke (linke Nasseristen, Baathisten und Kommunisten) hatte sich innerhalb des militärisch-bürokratischen, bonapartistischen Herrschaftssystems eingerichtet, sich mit ihm arrangiert und der damit verbundenen Privilegien bedient (3). Sogar die ägyptische KP löste sich 1965 selbst auf.

Der Schriftsteller als Zensor

Machfus vermied in seinen Romanen und Kurzgeschichten plakative politische Statements. Stattdessen arbeitete er mit subtilen Umschreibungen. Das musste er auch schon allein deswegen tun, weil er seit 1934 erst in der Universitätsverwaltung, später in dem Ministerium für "fromme Stiftungen" arbeitete und den Herrschenden nicht allzu unangenehm auffallen durfte. Die "Schreiber", Angestellten und Beamten, mit denen er zu tun hatte, fanden sich später in seinen Romanfiguren wieder. 1959, inzwischen mit mehreren ägyptischen Staatspreisen für sein schriftstellerisches Werk geehrt, wurde er innerhalb des Kulturministeriums zum Vorsitzenden der - Kunstzensur! Hierzu gehörten auch Filme, Lieder, Theater, Fernsehen...

In einem Interview erläuterte er diesen problematischen Sachverhalt wie folgt: "Dr. Tharwat Ukasha war Minister für Kultur geworden, und er war ein Mann, der die Künste liebte. Er wollte für den Zensurposten jemanden, der ebenfalls ein Liebhaber der Künste ist. (...) Ich verbot nichts, wenn es nicht aufgrund der Umstände völlig unmöglich war, es nicht zu verbieten. (...) Ich war immer auf Seiten der Kunst. Deshalb meinten auch einige Minister, daß ich von diesem Posten wieder entfernt werden sollte." (4) Nach neun Monaten musste Machfus diese Position wieder verlassen.

Zwischen den Fronten

Sein Schönreden war trotzdem enttäuschend. Im Interview tat er so, als ob es völlig normal gewesen sei, wenn kommunistische oder der Muslimbruderschaft angehörende Schriftsteller verfolgt wurden: "Ob so ein Mann schrieb oder nicht, er konnte sich jederzeit im Gefängnis wiederfinden." 1990, neun Jahre nach dem Machtantritt des (mittlerweile entmachteten) despotischen Präsidenten Mubarak sagte er allen Ernstes in dem oben genannten Interview: "Die (ägyptische) Regierung ist eine demokratische und gibt Zeitungen und Büchern alle denkbaren Freiheiten." Auch wenn die religiös-islamistische Intoleranz auf kulturellem Gebiet in Ägypten für KünstlerInnen lebensbedrohende Folgen haben konnte, wäre dies noch lange kein Grund, besonders nachsichtig gegenüber dem Mubarak-Regime zu sein. Aber wirklich frei entscheiden, wie sie die autoritäre Regierungsform in Ägypten in der Öffentlichkeit beurteilen, konnten sie ohnehin nicht.

Machfus Verhalten zeigt, wie sehr er und etliche seiner SchriftstellerkollegInnen mit islamisch-fundamentalistischen Parolen wie "Kunst ist Dreck" in die Defensive gedrängt worden sind und deswegen das Unterdrückungssystem Mubaraks gegenüber den Islamisten als das kleinere Übel ansahen. Während das "Parlament" mit nur 10 bis 20 Prozent Wahlbeteiligung und rigiden Parteizulassungsbeschränkungen den Volkswillen nicht einmal ansatzweise repräsentierte, wurde der Sicherheitsapparat mit Polizei, Geheimdienst und Armee auf etwa zwei Millionen Personen aufgebläht.

Mit dem seit 1981 als Reaktion auf die Ermordung von Präsident Anwar Sadat ausgerufenen Ausnahmezustand bekamen die "Sicherheitskräfte" freie Hand, noch rücksichtsloser gegen Oppositionelle vorzugehen, als bisher. Folgende von amnesty international publizierte haarsträubende Begebenheit, die genau zur Zeit von Machfus' Demokratie-Ausspruchs geschah, zeigt dies deutlich.

"Die Verhörbeamten des Abu-Za-abal-Gefängnisses nahe Kairo gaben sich alle Mühe, Informationen aus dem verstockten Kirchenangestellten herauszubekommen, den sie seit einiger Zeit in ihrem Gewahrsam hatten. Drei Monate lang folterten und mißhandelten sie den 38jährigen Mahmoud Mohammad Hassan in der Hoffnung, ihn endlich zum Reden zu bringen. Er schwieg beharrlich. Daß das stumme Leiden des Häftlings eine ganz andere Ursache als trotzigen Widerstandsgeist hatte, stellte sich erst heraus, als Mahmoud zur Untersuchung in ein Kairoer Krankenhaus gebracht wurde: er ist seit Geburt taubstumm." (5) Diese Geschichte hätte auch genauso in Machfus Romanen stehen können.

Islamisten: tödliche Bedrohung für Intellektuelle

1978 unterstützte Machfus den Friedensschluss Ägyptens mit Israel und stand seitdem zusätzlich in der Schusslinie, was durchaus wortwörtlich zu nehmen war. Die ihm 1992 angebotene Ehrendoktorwürde der Jerusalemer Universität hat er schon nicht mehr angenommen.

Karim Alawie, Schriftsteller und Stellvertretender Generalsekretär der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte, wies 1994 in einer besonders angespannten innenpolitischen Situation sogar auf Parallelen zum Faschismus hin: "Die Parteiorganisation der Muslimbruderschaft ist in den dreißiger Jahren nach dem Modell der italienischen Faschisten entstanden. Sie gingen damals sogar so weit, in schwarzen Hemden durch die Straßen von Kairo zu marschieren." (6)

Wie sehr die innenpolitische Auseinandersetzung Ägyptens durch das Erstarken islamistischer Strömungen überschattet wurde, zeigt das Attentat auf Machfus selbst im Jahre 1994, bei dem er schwer verletzt wurde. Die beiden Attentäter wurden wie hunderte andere Angeklagte hingerichtet, Gnadengesuche von Präsident Mubarak abgelehnt.

Zu den Ursachen der Mordanschläge äußerte sich Machfus damals in einer Stellungnahme: "Um so weniger darf deshalb aber vergessen werden, welchen Anteil Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption daran haben, bei der heutigen Jugend Gefühle der Verzweiflung und der Frustration zu erwecken. Die Menschen reagieren nur dann mit Sympathie auf Bücher, die dem Extremismus das Wort reden, wenn sie dank ihrer psychologischen und sozialen Situation darauf vorbereitet sind." (7)

Selbstbewusste Frauengestalten in Romanen

Während seines jahrzehntelangen literarischen Schaffens machten die verschiedenen Frauengestalten in seinen Romanen unterschiedliche Wandlungen durch. Wie in "Das Hausboot am Nil" ist es eine Frau, die die Männerrunde zumindest zeitweilig aus ihrer Lethargie und Gleichgültigkeit reißt.

Nagib Machfus nimmt Impulse der Frauenemanzipation auf und lässt im dritten Band seiner Kairo-Trilogie "Das Zuckergäßchen" einer Frauengestalt schon im Jahre 1957 für die Zukunft vorhersagen: "Du wirst ein neues Wörterbuch brauchen, um die Bedeutung von solch festgelegten Begriffen wie Liebe, Ehe, Eifersucht, Treue, Vergangenheit herauszufinden."

In dem 1983 erschienenen märchenhaften Roman "Die Reise des Ibn Fattuma" kommt der Protagonist in ein Land, in dem die fast nackten Menschen die freie, selbstbestimmte Liebe und Partnerschaft leben, und ist als strenggläubiger Moslem zu nächst sehr befremdet. Mit diesem Text hat Machfus seinen LeserInnen eine völlig neue Lebensweise vorgestellt.

Immer wieder Dialogversuche

In Europa ist Nagib Machfus zwar als Schriftsteller bekannt, weniger als Drehbuchautor für Filme. In einem Land mit hoher Analphabetenrate erreichte er mit seinen Filmen im gesamten arabischen Sprachraum ein Millionenpublikum. Auch hier hatte er Probleme mit der Zensur, als kurz nach Erscheinen seines Romans "Karnak-Cafe" dieser verfilmt wurde und bestimmte negative Aspekte des Nasserregimes thematisierte. Der Ärger unter den Ministern des Regimes war groß, der Kassenerfolg in den Kinos noch größer.

Ein Jahr vor seinem Tod im Jahre 2006 bat Machfus seine alten Widersacher, die konservative Geistlichkeit in der Ashar-Moschee und -Universität, ein Vorwort zu "Die Kinder unseres Viertels" zu schreiben, damit dieser Roman endlich doch noch in Ägypten erscheinen könnte. Einige seiner SchriftstellerkollegInnen reagierten mit Unverständnis, dass er ausgerechnet die Scheichs um eine nachträgliche Billigung seines Romans bat.

Doch Machfus war ein Mensch, der während seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit Bürokratie und Zensur auf die Überzeugungskraft seiner Argumente, gegenseitigen Austausch und auf beharrlichen Dialog setzte, um letztendlich die festgefahrenen Fronten doch noch aufzuweichen. Auf diese Weise trug er mit seinem Renommee als Staats- und Literaturnobelpreisträger zur Erhaltung und Erkämpfung von kulturellen Freiräumen und zur Ermutigung der Zivilgesellschaft bei.

Das "Unmögliche" ist möglich!

Wenn in den vergangenen Wochen trotz vieler brutaler Attacken der Mubarak-AnhängerInnen und des Staatsapparates Hunderttausende RegimegegnerInnen teilweise mit bewundernswerter Zurückhaltung und Disziplin friedlich und beharrlich demonstrieren, so zeigt dies eine große Reife in der politischen Auseinandersetzung, die bereits während der weniger öffentlich sichtbaren Konflikte erworben wurde. Nagib Machfus hatte viel zur Bestärkung des Freiheitswillens dieser Menschen beigetragen.

Wie wird wohl am 11. Dezember 2011 der hundertste Geburtstag des berühmten Schriftstellers in Ägypten gefeiert werden? Möge das Glücksgefühl, das ihn als kleinen Jungen bei Anbruch der ägyptischen 1919er Revolution gegen die britische Kolonialherrschaft beseelte und das er so treffend beschrieb, auch den kommenden Generationen zuteil werden:

"Eines Morgens befand ich mich wieder einmal auf dem Weg zur Schule, bewacht von einer Dienerin. Ich schleppte mich voran, als führte man mich ins Gefängnis. Die Hand umklammerte ein Heft, die Augen blickten niedergeschlagen drein, und das Herz war von der Sehnsucht nach Chaos erfüllt. Ich trug kurze Hosen, und der kalte Wind biß in die nackten Beine. Als wir ankamen, war die Schule geschlossen, und der Hausmeister verkündete mit dröhnender Stimme: 'Auf Grund der Demonstrationen findet heute kein Unterricht statt.' Ein Freudenrausch überfiel mich, trug mich fort an die Gestade des Glücks. Von tiefstem Herzen betete ich zu Gott, daß die Revolution immerfort währen möge." (8)

Anmerkungen:

(1) Nagib Machfus, "Das Hausboot am Nil", Edition Orient, 1988, Seite 61
(2) Hartmut Fähndrich, "Nagib Machfus", edition text + kritik, 1991, Seite 42
(3) Bassam Tibi, "Nassers Erbe in Ägypten" in "Links. Sozialistische Zeitung", Nr. 24, 1971, Seite 21
(4) "Die Tageszeitung" vom 24.2. 1990, Seite 24
(5) "ai-info" 12/1991, Seite 18
(6) "die Tageszeitung" vom 28.5.1994, Seite 16
(7) Süddeutsche Zeitung vom 22.10.1994
(8) Nagib Machfus, "Echo meines Lebens", Unionsverlag 1997, Seite 5

Ich empfehle die vielen preiswerten Taschenbuchausgaben der Romane von Nagib Machfus im Unionsverlag (Zürich) und Hartmut Fähndrichs "Nagib Machfus" in "edition text + kritik":

http://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=1357
http://www.etk-muenchen.de/search/Details.aspx?sort=1&q=nagib+machfus&ISBN=9783883773896#.VIiXOnuR6pp

 

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