November 2019
Buch zum 150. Geburtstag Gandhis am 2. Oktober 2019
Am 2. Oktober 2019 wurde weltweit der 150. Geburtstag von Mohandas Karamchand Gandhi gefeiert. An diesem Tag begann ebenfalls der zwölfmonatige Fußmarsch der indischen Landrechtebewegung Ekta Parishad von Delhi nach Genf zum Sitz der UNO.
Aus diesem Grund erschien im Verlag Graswurzelrevolution das Buch "Gandhi. 'Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art'" von Lou Marin und Horst Blume. Ich habe dort den 20seitigen Beitrag "Die gandhianisch geprägte Landrechtebewegung Ekta Parishad" geschrieben. Vom Fotografen Herbert Sauerwein wurden in diesem Beitrag sechs Fotos von dem Marsch der Hunderttausend "Jan Satyagraha" (2012) abgedruckt. Hier weitere Informationen aus dem Klappentext des Buches:
Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) und seine gewaltfrei-revolutionären Massenkampagnen in Indien gegen die britische Kolonialmacht sind noch immer eine weltweite Inspirationsquelle und ein emanzipatorischer Gegenpol zu gewaltverherrlichenden und kriegstreiberischen Tendenzen.
In diesem Buch werden staatskritische und pro-anarchistische Stellungnahmen Gandhis in Texten aus drei Jahrzehnten dokumentiert. Auf dieser inhaltlichen Grundlage wird auch auf die Vorwürfe eingegangen, Gandhi sei angeblich "Rassist" oder "Verteidiger des Kastensystems" gewesen. Dass diese Vorwürfe haltlos sind, wird durch die hier vorliegenden Texte deutlich.
Sie zeigen, wie sich Gandhis Positionen entwickelten und radikalisierten: bereits ab 1908 in Südafrika im Kollektiv mit jüdischen Gewaltfreien, ganz besonders aber während der drei Jahrzehnte des anti-kolonialen Kampfes in Indien.
Abschließend wird anhand der aktuellen sozialen Bewegung für Landrechte am Beispiel von Ekta Parishad gezeigt, dass sich diese auf den Salzmarsch Gandhis bezieht und die gewaltfrei-libertäre Tradition noch immer relevant für die Kämpfe von unten im heutigen Indien ist.
Inhaltsverzeichnis
Teil I: Drei Reden und Texte: Gandhi als Anarchist
"Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art." Rede zur Einweihung der Hindu-Universität von Benares, 6. Februar 1916
Macht ist keines unserer Ziele [sondern aufgeklärte Anarchie]. Aus Young India, 2. Juli 1931
"Der ideale Staat wird eine geordnete Anarchie sein." Diskussionen mit B.G. Kher und Anderen, in: Harijan, 28. August 1940
Teil II:
Gandhi: Ein Anarchismus anderer Art
Lou Marin
Gandhi als anerkannter Teil des Anarchismus in Indien
Gewaltfreier Widerstand am Beispiel der SalzmarschBewegung 1930
Gandhi als Rassist? Der Kampf für die indische Minderheit in Südafrika und seine spezifischen Bedingungen
Nelson Mandelas Wertschätzung für Gandhi als Inspiration im anti-rassistischen Kampf
Anti-Rassismus bedeutet auch: gegen Antisemitismus! Gandhis frühe Integration jüdischer Mitstreiter in den Ashrams, Hermann Kallenbach, Sonja Schlesin und Martin Buber
Gandhis universalistischer Anti-Kolonialismus als Gegenposition zu Subhas Chandra Boses Prinzip "Der Feind meines Feindes ist mein Freund."
Die Gandhi-Mörder Nathuram Godse und V. Savarkar: Mord aus Motiven des Anti-Rassismus Gandhis und dessen Gegnerschaft zum Hindu-Nationalismus
Gandhis Positionen zur Emanzipation und Auflösung des Kastensystems, sein Streit mit B.R. Ambedkar um eine zweite Teilung Indiens und die Schaffung des Staates "Harijana"
Zur Aktualität von Gandhis Modernitäts- und Zivilisationskritik
Teil III:
Die gandhianisch geprägte Landrechte-Bewegung Ekta Parishad (Gemeinsamer Rat)
Horst Blume
Weitere Verlagsinfos (Leseprobe, Rezension) hier:
https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/gandhi/
Lou Marin, Horst Blume
Gandhi
"Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art"
Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019
140 Seiten, mit aktuellen Fotos und historischen Abbildungen
Preis 13,90 Euro, ISBN: 978-3-939045-38-0
Hier ist ein Leseprobe aus meinem Beitrag "Die gandhianisch geprägte Landrechte-Bewegung Ekta Parishad (Gemeinsamer Rat)":
Gandhis Salzmarsch als Vorbild
Um das Thema Landrechte in dieser dramatischen Situation auf die Tagesordnung zu setzen, waren mehr als nur Appelle an die Landbesitzer, etwas abzugeben oder Sozialarbeit in den Dörfern notwendig. Ekta Parishad besann sich auf das Vorbild Gandhis, der 1930 mit seinem bekannten Salzmarsch das Kolonialregime erheblich unter Druck gesetzt hatte.
Am 12. März 1930 begann er von seinem Wohnort bei Ahmedabad den 385 Kilometer langen Marsch mit 78 Anhängern zum Meer. Er zog 24 Tage lang von Dorf zu Dorf, um am Meeresstrand eine Handvoll Salz zu gewinnen und damit das britische Salzmonopol zu brechen. Insgesamt wurden anschließend 50.000 Menschen, die es ihm gleichtaten, verhaftet. So wurde der Salzmarsch zu einem wichtigen Symbol des zivilen Ungehorsams, das dem Unabhängigkeitskampf einen deutlichen Aufschwung bescherte.
Neun Jahre nach der Gründung von Ekta Parishad begann am 10. Dezember 1999 der Bhu-Adhikar-Satyagraha Padyatra (Landrechts-Friedensfußmarsch), der sechs Monate lang über 3000 Kilometer hinweg in der Nähe des Chambertals in Chhattisgarh stattfand. In den 1800 besuchten Dörfern wurden sie herzlich von den Adivasis und Dalits empfangen. Die Medien berichteten ausführlich und die Betroffenen hatten endlich das Gefühl, dass ihre Sorgen ernst genommen wurden.
Es folgten Märsche durch Bihar (2001), erneut durch Chhattisgarh nach Raipur (2003) mit zwei- bis dreitausend TeilnehmerInnen und durch Orissa (2004). Auf den Zwischenstationen in den Dörfern wurde intensiv diskutiert, das Selbstwertgefühl der Marginalisierten gestärkt, und nach Problemlösungen gesucht. Politiker in den jeweiligen Bundesstaaten gerieten unter Druck, mussten erste Zugeständnisse machen und Abhilfe zusagen.
Der Fußmarsch entwickelte sich zu einer vielversprechenden Form des gewaltfreien Widerstandes. Der grüne Fußabdruck wurde zu einem wichtigen Logo und Erkennungszeichen auf Plakaten, Transparenten, Fahnen und Flugbättern. Helena Drakakis, die einige Märsche mitgemacht hat, bemerkt bewundernd:
"Auf unserem Marsch war es unmöglich, zu versuchen, mit der Menge Schritt zu halten. Wenn sie 'gehen' sagten, meinten sie eigentlich rennen. Die Adivasi sind daran gewöhnt, große Strecken schnell zurückzulegen. Den ganzen Monat lang hatte es ihnen nichts ausgemacht, täglich mehr als vierzig Kilometer zurückzulegen ..."
Um in der überregionalen Politik wahrgenommen zu werden bedurfte es jedoch noch größerer Anstrengungen. Am 2. Oktober 2007 begann der vierwöchige 350 Kilometer lange Marsch von 25.000 Adivasis und Dalits aus zehn Bundesländern von Gwalior nach Delhi. Die Vorbereitungen hierfür dauerten drei Jahre.
Nicht nur die Durchführung dieses Marsches war eine Meisterleistung in Selbstorganisation, sondern auch die Vorbereitung hierfür: Die armen Familien legten drei Jahre lang jeden Tag eine Rupie pro Tag zurück, um den teuren, teilweise mehrere tausend Kilometer langen Anfahrtsweg per Bahn für ein Familienmitglied zu finanzieren. Und jeden Tag eine Handvoll Reis, damit die Daheimgebliebenen nicht verhungern mussten. Bei diesen Märschen zeigt sich die Kraft der Armen, die entbehrungsreiche Märsche mit nur einer Mahlzeit am Tag und bei großer Hitze und Übernachtungen unter freien Himmel direkt neben vielbefahrenen Straßen auf sich nehmen können.
Unterstützung kam von mehreren Hundert Vertretern internationaler Organisationen und sogar von mehr als einhundert Mitgliedern des indischen Parlaments. Mit der Bundesregierung wurden Zusagen ausgehandelt, die eine Landrechtsreform unter Beteiligung von Ekta Parishad und Maßnahmen zu ihrer effektiven Umsetzung beinhalteten. Aber es wurde schnell klar, dass bei so einer gewaltigen und umfassenden Aufgabe immer wieder Druck auf allen Ebenen gemacht werden muss und man mit den Aktivitäten nicht nachlassen darf.
Um den vielbeachteten "Marsch der Hunderttausend" (Jan Satyagraha), im Jahr 2012 in die Wege leiten zu können, wurde eine spezielle Vorbereitungsphase notwendig. Es war der einjährige Satyagraha Samwad Yatra, eine Tour von zwanzig Ekta Parishad-MitarbeiterInnen mit Jeeps über 80.000 Kilometer durch dreihundertfünfzig Bezirke vom äußersten Süden Indiens bis nach Kaschmir. Zum Schluß marschierten die Satyagrahis nach Gwalior, wo es gleich mit dem Marsch der Hunderttausend in Richtung Delhi zufuss weiterging. Rajagopal verglich diese Mobilisierungsreise mit einem "fahrenden Zirkus", bei dem kleine Theatervorführungen und Musikdarbietungen präsentiert und bei den Versammlungen mit enthusiastischen Sloganrufen wie "Jai Yagat" (Sieg der ganzen Welt!) Zuversicht und Optimismus aufgebaut wurden.
Die Tour begleitete die Frauengruppe Ekta Mahila Manch, eine spezielle Frauenabteilung innerhalb von Ekta Parishad. Es fällt auf, dass Frauen auf den Märschen und bei den sozialen Aktivitäten sehr präsent sind. Es werden bei Ekta Parishad viele Schulungen und Konferenzen von und für Frauen organisiert. Jill Carr-Harris, die kanadischstämmige Ehefrau Rajagopals, ist seit etwa zwei Jahrzehnten dabei, speziell Frauen zu ermutigen und zu befähigen, ihren gleichberechtigten Platz in der Landrechtbewegung einzunehmen. (...)
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