Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 245, Januar 2000
Partito Radicale: Eine Unpartei treibt ihr Unwesen
Stationen eines Niederganges
"Die Unpartei aus Italien", wie die Partito Radicale (PR) in "BBU-aktuell" 1979 vom ehemaligen Graswurzelrevolution-Redakteur Michael Schroeren (jetzt Pressesprecher Jürgen Trittins) genannt wurde, war schon immer für Überraschungen gut. Jahrzehntelang erregte die Kleinpartei durch ihren unkonventionell-provokativen Politikstil und ihr kompromißloses Eintreten für BürgerInnenrechte europaweit viel Aufsehen.
Auch einige Anarchistlnnen interessierten sich für die PR. Mitte der 90er sickerte – oft nur in Nebensätzen diverser Zeitschriften erwähnt - durch, daß die PR seltsamerweise zusammen mit Berlusconis "Forza ltalia" und den Rechtsradikalen der "Alleanza Nationale" (AN) die Regierung stellte.
Nach der Europawahl in diesem Jahr strebte die PR einen "technischen Zusammenschluß" mit der rechtsradikalen "Front National" (FN) an, um sich institutionellen Einfluß zu sichern. Zur Zeit bereitet sie 20 (!) Referenden (Volksbefragungen) vor. Unter anderem fordert sie darin den drastischen Abbau des Kündigungsschutzes für ArbeitnehmerInnen, die völlige Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die Erleichterung der Steuerhinterziehung. Was wie ein kaum zu erwartender Sinneswandel aussieht, hat eine Vorgeschichte.
Die PR ging 1955 aus einer Abspaltung der Liberalen Partei Italiens (PLl) hervor. Bündnisse mit den wirtschaftsfreundlichen "Republikanern" brachten keinen Erfolg. Die Diskussion über eine Annäherung an Christdemokratlnnen oder Sozialistlnnen entzweite die Radikalen. 1963 wurde unter Führung von Marco Pannella die PR neu gegründet, ohne sich an den Wahlen zu beteiligen. Die jungen Aktivistlnnen arbeiteten mit der Anti-Atombewegung zusammen. Gemeinsam mit anderen Bürgerinitiativen erreichten sie nach jahrelangem Kampf eine Reform des Scheidungsgesetzes. In der folgenden Zeit unterstützte die PR zusammen mit italienischen Feministinnen das 1976 durchgeführte Referendum für das Recht auf Abtreibung. Schon damals spielte die spätere UN-Hauptkommissarin Emma Bonino als Mitglied der Parteispitze eine wichtige Rolle.
Pasolinis letzte Illusionen
Große Sympathien hatte der Schriftsteller Pier Paolo Pasolini in seinen letzten Lebensjahren für die PR. Innerhalb der Kommunistischen Partei häufigen Anfeindungen ausgesetzt, unterstützte er die Referendum-Kampagnen für das Recht auf Scheidung und auf Abtreibung. In seinem letzten Text schrieb er‚ 1975 wenige Stunden vor seinem gewaltsamen Tod, für seine Rede vor dem Parteitag der PR: "Vergeßt unverzüglich die großen Siege und fahrt fort, unerschütterlich, hartnäckig, ewig in Opposition‚ zu fordern: FAHRT FORT, Euch mit dem Andersartigen zu identifizieren, Skandal zu machen, zu lästern".
Bereits am 16. 7. 1974 hatte sich Pasolini in der bekannten Tageszeitung "Corriere della sera" vehement auf die Seite des hungerstreikenden Pannella gestellt, der unter Anderem eine Viertelstunde Sendezeit im Fernsehen, eine öffentliche Audienz beim Staatspräsidenten und die Behandlung eines Antrages zur Abtreibung in der Abgeordnetenkammer forderte. Während Pasolini „die absolute Ablehnung und Verurteilung jeder Form von Macht und Herrschaft" bei der PR in höchsten Tönen lobt, schreibt er gleichzeitig wörtlich vom "Leader Marco Pannella" – ein offensichtlicher Widerspruch.
Dabei sind die von Teilen der Öffentlichkeit als "Pannellas Frühjahrskuren" verspotteten Hungerstreiks durchaus kritisch zu sehen. Der sich selbst als Gandhi-Anhänger bezeichnende Pannella setzte sie ziemlich rabiat als Erpressung ein, indem er seine Gegner durch den angekündigten unbefristeten Hungerstreik unter Druck setzte: Entweder ihr erfüllt meine Forderungen oder aber ihr nehmt möglicherweise meinen Hungertod billigend in Kauf.
Es gab etliche Intellektuelle wie beispielsweise Pasolini‚ die sicherlich in wohlmeinender Absicht diesen faulen Zauber mitmachten. Gandhi selbst hatte seine Fastenaktionen (Hungerstreiks führte er nicht durch) so angelegt, daß sie auch an das Herz seines Ansprechpartners rühren und ihn aus eigener Entscheidung und Überzeugung heraus zu einem Überdenken seiner Position und zur Dialogfähigkeit verhelfen sollten.
Frühe Kritik in der Graswurzelrevolution
1976 trat die PR zu den Parlamentswahlen an und erhielt mit 400.000 Stimmen (1,1 %) vier Abgeordnete. Wichtige andere Ziele der PR waren ein liberaleres Drogengesetz, die Aufhebung des Verbots von Verhütungsmitteln, ein Gesetz für Kriegsdienstverweigerung - immerhin war die PR assoziiertes Mitglied der WRI. Jean Fabre, Franzose und zu Gefängnis verurteilter Kriegsdienstverweigerer wurde Sekretär der PR, die sich von Anfang an als "europäische Partei" verstand.
Als ab 1978 sich in der BRD einige "Grüne Listen" als selbsternannter parlamentarischer Arm der Bürgerinitiativbewegung gründeten, wurde die PR auch hier mehr wahrgenommen und von einigen Menschen als Vorbild gesehen.
Die GWR hat 1979 in ihren Ausgaben 41 bis 43 auf insgesamt 14 Seiten eine gründliche Kritik an dem Politikverständnis der PR geleistet, die in allen wesentlichen Punkten durch die nachfolgende Entwicklung bestätigt wurde:
+ Die PR ist eine legalistische Partei, die durch Gesetzesänderungen das Parlament in eine ihrer Meinung nach wirkliche, demokratische Volksvertretung umwandeln will. Ganz in der Tradition des freiheitlichen Liberalismus werden der Staat und seine lnstrumente keineswegs angezweifelt.
+ Die PR versucht ihren parlamentarischen Einfluß durch Doppelmitgliedschaften und Gewinnung anderer Politiker zu erhöhen. Alles läuft daraus hinaus, die PR auf dieser Politikebene mächtiger zu machen.
+ Mit der übermäßigen Fixierung auf Referenden begibt sich die PR auf ein vom Staat angebotenes Kampffeld und legitimiert die herrschenden Zustände letztendlich noch als „demokratisch“.
+ Die PR verbündet sich mit jeder anderen Partei, wenn ihre derzeit aktuellen zwei oder drei Hauptforderungen hierdurch mitberücksichtigt werden.
+ Viele Kampagnen und Aktionen werden nicht mit den Bürgerinitiativen gleichberechtigt entwickelt und abgesprochen, sondern die PR erklärt einen bestimmten Problembereich zu ihrem Schwerpunkt und bekämpft Gruppen‚ die sich nicht bedingungslos anschließen.
+ Pannella als "Führungspersönlichkeit" handelt autoritär. Andere Parteimitglieder werden zu bloßen Statistlnnen degradiert, die sich den neuesten Einfällen Pannellas anschließen müssen, um keine Spaltung zu riskieren.
Ab 1982 war auch in anderen Zeitschriften Kritik an der PR zu lesen. Peter O. Chotjewitz benannte in "Literatur Konkret" die Ursachen für den Niedergang folgendermaßen: "Eine Rolle dabei spielt wohl, daß maßgebliche personelle Kräfte derzeit durch die parlamentarische Arbeit in den beiden Kammern in Rom und in Straßburg absorbiert werden. Eine Partei, die ein paar hundert Mitglieder und praktisch keine Organisation hat, verliert dabei rasch den Kontakt zu außerparlamentarischen Bewegungen".
1983 kritisierte Alexander Langer in einem ausführlichen Beitrag im "Freibeuter" die Vereinnahmungsstrategie der PR, die bekannte Schriftsteller wie Leonardo Sciascia oder den theoretischen Kopf der Autonomia Operaia, Toni Negri, auf die ersten Listenplätze bei Parlamentswahlen setzte - um sich anschließend hoffnungslos mit ihnen zu verzanken. Denn: "Was sie an eigenem mitbrachten und zu sagen hatten, interessierte aber kaum. Konvertiten waren gefragt, nicht Partner. (...) Daß die Radikale Partei oft als in sich geschlossene Gruppe, manchmal fast als Sekte, als eine Organisation empfunden wird, die von außen und dennoch mit Führungsanspruch in die verschiedensten Bewegungen und Initiativen eingreift, stört Pannella wenig."
Der Schwenk nach rechts
1984 sorgte Pannella für Irritationen, als er am 3. 10. 1984 in einem offenen Brief gegen das Einreiseverbot des französischen Front National-Chefs Le Pen nach Griechenland protestierte und gewaltfreien Widerstand gegen diese unerhörte Beschränkung der Reisefreiheit ankündigte. lm gleichen Jahr setzte die PR den bekannten Quizmaster Enzo Tortora auf die Liste der Europaparlament-Kandidatlnnen. Dem Mann wurden Drogenhandel und Verbindungen zur Cammorra vorgeworfen und so verwundert es kaum, daß mafiose Familien Wahlkampf für die PR machten und diese Partei in den Landstrichen mit der höchsten Konzentration der Mafia in der Wählergunst zulegte.
Die Nominierung eines Pornostars (Ilona Staller) und eines erklärten Atomkraftbefürworters (Alberto Bertuzzi) für Parlamentssitze in den Jahren darauf zeigen einmal mehr, daß die PR bei der Auswahl ihrer Kandidatlnnen nicht sehr zimperlich vorging. Im "Radio Radicale", einstmals als alternative Ergänzung zu den herrschenden Medien gedacht, konnte jetzt jedermensch anonym rassistische oder sexistische Beschimpfungen loswerden - alles natürlich nur, um "ein Stück Demokratie im Medienbereich" zu verwirklichen.
Die Partei hat zwar etliche Parlamentarier, aber zuwenig Mitglieder? Die Problemlösung erfolgt durch ein Ultimatum: entweder die Zahl steigt von 2.500 auf 10.000 oder die Partei löst sich auf! Die Folge waren Masseneintritte von Baghwan-Anhängerlnnen und Doppelmitgliedschaften prominenter Mitglieder anderer Parteien.
1987 bekommt der PR ihre Annäherung an die Craxi-Sozialistlnnen und die Konkurrenz mit Grünen Listen (2,5%) bei den Wahlen nicht so gut, so daß sie von 3,5% (1979) auf 1,5% in der Wählergunst absinkt. 1992 wird die Partei noch mehr auf ihre Führungsperson ausgerichtet, indem sie als "Lista Pannella" kandidiert.
1994 beteiligte sich die "Lista Pannella" mit ihren 3,5% an der Rechtsregierung Berlusconis (Forza ltalia, Alleanza Nationale und Lega Nord). Der Verleger Klaus Wagenbach hat in einem Interview vom 8. 7. 1994 in der Frankfurter Rundschau der parlamentarischen Linken den Vorwurf gemacht, nicht genug auf die Partido Radikale zugegangen zu sein. "Berlusconi war da schlauer, er hat sich sogar mit Pannella verbündet, obwohl der überhaupt nicht in das rechte Lager paßt." Ein Jahr später sorgte das von der PR initiierte Volksbegehren für die Freigabe leichter Drogen zu heftigen Diskussionen innerhalb des Rechtsbündnisses.
Wahlerfolg und Hinwendung zum Marktliberalismus
Nach der Ablösung der Berlusconi-Regierung durch das Mitte-Links-Bündnis landeten die "Techniker der Publizität" ihren neuesten Coup. Emma Bonino‚ EU-Kommissarin für "Humanitäre Hilfe" unter der inzwischen aufgelösten Rechtsregierung‚ kandidierte 1999 für die PR auf der eigens nach ihr benannten Liste für das Europaparlament.
"Fast sechs Millionen Mark hat die Partei für 318 Fernsehspots ausgegeben; 45 Millionen Briefe ("Emma for Europe") wurden mit Kleinlastwagen an praktisch alle italienischen Haushalte verteilt. Die ungewöhnliche Methode kostete immerhin zehn Millionen Mark." Der Erfolg für die rührige und offensichtlich auch beliebte Europapolitikerin lies nicht auf sich warten: "...seit die 'Liste Emma Bonino' bei den Europa-Wahlen sensationelle 8,7% erhielt, sind die 'Radikalen' wie berauscht. Mal sehen sie sich schon in der Regierung und dienen sich der Rechten an; mal verhandeln sie mit der Linken."
Der Höhenflug der PR erhielt allerdings einen empfindlichen Dämpfer, als bekannt wurde, daß die Partei eine "technische Fraktion" mit Le Pens "Front National", dem belgischen Vlaamse Block und einem Neofaschisten bilden wollte, um mehr Einfluß und einen Ausschußvorsitz im Europaparlament zu ergattern. Dieses Vorhaben sorgte für heftige Diskussionen innerhalb der Partei. Der 81-jährige jüdische Ehrenpräsident, Bruno Zevi, protestierte energisch. Er stellte allerdings eine Minderheitenposition auf dem PR-Parteitag dar: "Doch die allgemeine These unter den Parteitagsteilnehmern war‚ daß Le Pen ein demokratisch gewählter Parlamentarier sei und insofern das Recht habe, wie jeder andere auch seine Meinung zu äußern."
Die angestrebte "technische Koalition" wurde vom Europaparlament schließlich abgelehnt, weil die vorgeschriebene inhaltliche Nähe der Beteiligten nicht ohne weiteres erkennbar war. Sogar das Europaparlament bewies mit dieser Entscheidung mehr Anstand, als die PR aufzubringen imstande war.
Die Einschätzung Werner Raiths in der TAZ vom 2. 8. 1999, Pannellas neuer Schritt in Richtung Le Pen sei "vor allem als Gag gedacht" (!), erscheint angesichts der offensichtlich bestehenden verständnisvollen Zuwendung zur FN als sehr weit hergeholt.
Die neueste Referendumsoffensive der Markt-Radikalen zugunsten der Unternehmer wurde von "Forza ltalia" dankbar aufgenommen und bringt die soziale Unsensibilität dieser Partei auf den Punkt. "Ein regelrechter Angriff auf Kündigungsschutzrechte ist das Volksbegehren Nummer 14. Damit soll es den Untemehmern ermöglicht werden, Angestellte leichter zu entlassen. Die Radikale Partei will den Arbeitsmarkt völlig liberalisieren und jegliche Schutzmaßnahmen aufheben. Referendum 9 und 13 haben zum Ziel‚ die Regelung für Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse auf den Scheiterhaufen zu werfen. Müssen Unternehmen nach der derzeitigen Gesetzeslage noch Gründe vorlegen, wenn sie Teilzeitbesehäftigte einstellen oder befristete Stellen schaffen wollen, würde dies nach Annahme der Volksbegehren unnötig."
Kein Wunder, daß die PR in diesem Jahr von der französischen Zeitung "Le Monde" der "libertären Rechten" zugeordnet wurde. Es ist schon erstaunlich, wie eine Gruppe von Menschen zu Beginn ihres politischen Engagements immerhin noch etliche emanzipatorische Inhalte vertreten hat‚ um diese später mit größter Vehemenz ad absurdum zu führen.
Die Linke hat im letzten Jahrzehnt der "Forza ltalia" und der sezessionistischen "Lega Nord" viel Aufmerksamkeit geschenkt und die PR dabei fast ganz vergessen, obwohl diese Partei in eigener Sache eines ganz gewiß nicht vernachlässigte: Public Relation (PR).
Nachwort:
Natürlich kann man darüber streiten, ob dieser Artikel in der Rubrik "Linke Bewegungen" richtig liegt. Über eine Unterbringung unter "Nationalisten, Rechte, Neoliberale" könnte man dies allerdings auch.
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