Gewerkschaften
Schwarzer Faden, Nr. 14, 2/1984
35-Stunden-Woche - Auf zu neuen Ufern?
In diesen Monaten bahnt sich mit der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche eine der wichtigsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen dieses Jahres an. Nachdem nun seit über 60 Jahren die tägliche Arbeitszeit und seit fast 30 Jahren die wöchentliche unverändert geblieben ist, fordern große Teile der Gewerkschaften die Abschaffung der 40-Stunden-Woche. Die Wirtschafts- und Strukturkrisen und die durch technologische Entwicklung begünstigte Rationalisierung hat zu 2,3 Mio Arbeitslosen geführt. Es ist durchaus realistisch, daß sich diese Zahl in 10 Jahren verdoppeln könnte.
In den vergangenen Jahrzehnten orientierte sich die Gewerkschaftspolitik im Wesentlichen auf das Erreichen von Lohnerhöhungen und auf die Pflege der Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmern. Bei Fortsetzung dieser Politik würden die Gewerkschaften durch die ständig steigende Massenarbeitslosigkeit einen großen Teil ihrer Mitglieder und ihres Einflusses verlieren. Aus diesem Grund ist ein größerer Teil der Gewerkschaften bereit, die Sozialpartnerschaft mit der Forderung nach der 35-Stunden-Woche aufzukündigen.
Die Schaffung neuer Arbeitsplätze als Hauptargument der Gewerkschaftler für die 35-Stunden-Woche ist nicht weiter verwunderlich für denjenigen, der angesichts der Krise die Angst vieler Menschen vor der Arbeitslosigkeit ernst nimmt. Da nach der Wende in Bonn mit der neoliberalen Strategie des Sozialabbaus, der Individualisierung und der Zerrüttung gewachsener Strukturen versucht wird, den Widerstand gegen das Abwälzen der Krise auf die abhängig Beschäftigten zu partikularisieren und zu brechen, geht es den Gewerkschaften auch darum, eine für sie bedrohliche Verschiebung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses abzuwenden.
Neben diesem Aspekt hat die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche auch neue und weitergehende Fragestellungen aufgeworfen. Und zwar auch in einer Gewerkschaftsbewegung, die bisher streng und unbeweglich einer durch und durch traditionellen Politik nachgegangen ist. Es kommt jetzt darauf an, die Gelegenheit zu nutzen und die Diskussion auf folgende Bereiche auszuweiten, zu vertiefen und in konkrete Politik umzusetzen:
- - Infragestellung der sozialpartnerschaftlichen Unterordnung der Gewerkschaft in der Krise
- - Bündnisse mit Arbeitslosen
- - Kontrolle und Veränderung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation
- - innerbetrieblicher Kampf gegen UmweltZerstörung
- - Rüstungskonversion
Der Kampf um die 35-Stunden-Woche ist allerdings nicht für alle Gewerkschaften Anlaß für eine längst fällige Neubesinnung. Besonders die IG Chemie und IG Bergbau & Energie lehnen sich offen an Modelle der Bundesregierung an, die eine Vorruhestandsregelung und flexible Arbeitszeitverteilung als Gegengewicht zur Forderung nach der 35-Stunden-Woche bevorzugen.
Ein solches öffentlichkeitswirksames Konzept »pauschal abzulehnen fällt der IGM deshalb schwer, weil es genügend betriebliche und tarifliche Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart gibt, in denen Betriebsräte und Gewerkschaft solchen Modellen zugestimmt haben« schreibt der "Arbeiterkampf" in seiner Ausgabe vom 12. 3. 1984. Den Arbeitern wäre mit einer flexiblen Arbeitsverteilung keinesfalls geholfen, denn "wenn das Kapitalinteresse eine optimal flexibel in den Produktionsablauf eingepaßte Arbeitszeit anstrebt und die Arbeitskraft ihre an sozialen Bedürfnissen orientierten Selbstbestimmungswünsche verwirklichen will, dann haben beide Seiten nicht nur Verschiedenes, sondern schlicht Entgegengesetztes im Sinn: die Organisation der Zeit stärker als bisher am jeweils eigenen Interesse auszurichten." (LINKS, Nr.169, S. 9)
Die von rechten Gewerkschaften ins Spiel gebrachte Lebensarbeitszeitverkürzung wird zwar von vielen älteren Arbeitnehmern positiv eingeschätzt, ist aber im Grunde nur eine Reaktion auf unmenschliche Arbeitsbedingungen, bewirkt eine Verjüngung der Belegschaft und unterläuft tarifvertragliche Kündigungs- und Bestandsschutzregeln für ältere Arbeitnehmer. Hierdurch wird eine weitere Steigerung der Arbeitsintensivierung ermöglicht und die Arbeitssituation für Ältere letztendlich noch mehr verschlechtert. Gerade die 35-Stunden-Woche könnte das Übel ansatzweise an der Wurzel packen und den Verschleiß der Gesundheit bremsen.
Die Wahrscheinlichkeit der Leistungsintensivierung bei Einführung der 35-Stunden-Woche ist bei näherem Hinsehen nicht so groß, wie es oftmals befürchtet wird. Zum einen haben die Unternehmen seit Jahren die innerbetrieblichen Möglichkeiten zur Leistungssteigerung weitgehend ausgeschöpft. Zum anderen würde ohne 35-Stunden-Woche der arbeitsmarktbedingte Druck auf die von Entlassung bedrohten Arbeitnehmer viel durchgreifendere Wirkungen haben.
Ein Erfolg für die 35-Stunden-Woche als ein Schritt hin zu einer Umverteilung der Arbeit, deren Kosten das Kapital zu tragen hat, ist nur wahrscheinlich, wenn es zu verstärktem Eingreifen von Gruppen außerhalb des DGB's kommt, damit der enge Rahmen der halbherzig begonnenen 35-Stunden-Woche-Kampagne gesprengt wird. Die Berliner Zeitung »Anschläge« versucht zwar mit ihrem Artikel über die "Zukunft der Arbeit" das Thema aufzugreifen, aber das bedenkenlose Spielen mit der Not der von Arbeitslosigkeit Betroffenen grenzt für mich an Zynismus. Hier wird flott ins Blaue philosophiert und eine Zukunftsvision serviert, über die wir uns womöglich auch noch freuen sollen:
"Aus diesem Konglomerat von massenhaft aus dem Produktionsprozeß Herausgeschleuderten, von Außenseitern, Marginalisierten und Jobbern wird sich das neue Subjekt der Auseinandersetzung möglicherweise herauskristallisieren, das sich vor allem an die Aufhebung des Mangels machen muß . Lag die Stärke des Subjekts früher in seiner Homogenität, wie alle klassischen Auseinandersetzungen gezeigt haben, so wird diese zukünftig in seiner Heterogenität liegen."
An einem solchen Denkansatz ärgert mich der kaum verschleierte ungestüme Erwartungsdrang nach Zuständen, die das Herz eines jeden neoliberalen Ausbeuters höher schlagen lassen. Solche Zeilen können nur von Leuten geschrieben werden, die teilnahms- und verantwortungslos den Problemen der abhängig Beschäftigten gegenüberstehen und die die verheerende Wirkung massenhafter Desolidarisierung falsch einschätzen.
»Ein Zauberkünstler aber, der aus Dauerarbeitslosigkeit, aus der tiefgreifenden und noch zunehmenden Spaltung der Gesellschaft das Material einer revolutionären Umwälzung machen will, der ist eine komische Figur (... ) Nein - wenn denn eine grundlegende Umgestaltung dieser Gesellschaft möglich ist, dann nicht an den Entscheidungs- und Machtzentren, an den Produktionsstätten vorbei und ohne daß Ungehorsam und Widerstand in diesen Zentren zustandekämen, und das heißt eben auch bei den Arbeitern« (Horst-Dieter Zahn, LINKS, Nr. 165, S, 15)
Um den emanzipatorischen Gehalt des Kampfes für die 35-Stunden-Woche in seinem größeren Umfang zu erkennen, ist es hilfreich, auf den Artikel von Oskar Negt "Ein politischer Kampf um das Brechen von Herrschaftspositionem" (1) einzugehen.
Von der Entwicklung ausgehend, daß bei wachsender Kapitalproduktivität das Maß an gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit geringer wird, erweitert sich nach Negts Meinung der mögliche Zeitanteil für das "Menschsein". Es geht bei dem Kampf für die 35-Stunden-Woche um die Durchsetzung der "Zeitautonomie". Die alten unternehmerischen Verfügungsrechte über die Zeit der abhängig Beschäftigten müssen zurückgedrängt werden. Die früheren Arbeitszeitverkürzungen hatten verstärkte Betätigungsmöglichkeiten zur Folge, die sich auf den gesamten Lebenszusammenhang bezogen: Ausbau von Selbsthilfeeinrichtungen (Genossenschaften), Betätigung in Sportvereinen und Buchclubs, Eigenarbeit etc.
Die durch eine Umgewichtung von Arbeitszeit und Freizeit möglich werdende "Emazipations- und Orientierungszeit" kann durch die kapitalistische Kultur- und Bewußtseinsindustrie instrumentalisiert werden und stellt an die Gewerkschaften die Anforderung, Teile der freiwerdenden Zeit mitzugestalten; denn nichts bleibt in dieser Gesellschaft unbesetzt. Die jetzt stattfindende sozialstrukturelle Verschiebung der für den Lebenszusammenhang der Menschen wichtigen Konfliktbereiche auf außerbetriebliche Orte der Erfahrung, auf Wohnen, Verkehrsverhältnisse, Stadtteilprobleme, ökologische Lebensbedingungen, wird die Gewerkschaften zwingen, ihre hauptsächlich auf den Betrieb fixierte Tätigkeit zu überdenken. Gerade in einer Zeit der kulturellen Wendeversuche, in der bisher aufgebaute Errungenschaften rückgängig gemacht werden sollen, ist eine stärkere Kooperation zwischen gewerkschaftlicher Bildungsarbeit und autonomen Kulturinitiativen sinnvoll.
Aus dem bisher gesagten folgert Negt die Notwendigkeit einer Erweiterung der Organisationsprinzipien der Gewerkschaften. Betriebsarbeit und Arbeit im Stadtteil -- und Wohngebiet soll gleichberechtigt wahrgenommen werden. Diese Erweiterung des politischen Mandats der Gewerkschaften trifft sich mit dem anarchosyndikalistischen Ansatz, der die Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaft und (Arbeiter-)Partei ablehnt. Stadtteile als Basisorte eines zweiten, immer wichtiger werdenden Organisationszentrums bieten für außergewerkschaftliche sozialistische und anarchistische Gruppen stärkere Einwirkungsmöglichkeiten als bisher. In den Großstädten ist es nach "Revier" (3/84) schon zu Gründungen von Stadtteilgruppen zur Unterstützung der 35-Stunden-Woche gekommen. Sie dürfen allerdings nicht wie gehabt zum alleinigen Tummelplatz für die brav im Schlepptau der offiziellen Politik des DGB´s befindlichen Jusos und DKP´lern herunterkommen, sondern müssen tatsächlich Bürgerinitiativcharakter haben, wenn eine weitergehende emanzipatorische Perspektive mit ihnen verbunden sein soll.
Hierzu gehört auch, daß die sich solchermaßen herausschälenden Organisationskerne in der Lage sind, eigenständige Handlungskonzepte und Strategien notfalls auch gegen die offizielle DGB-Politik zu entwickeln, die sich sicherlich mit faulen Kompromissen zufrieden geben wird. Die einsetzenden Spannungen mit Teilen des DGB könnten kreativ genutzt und gegen seine hierarchische Struktur gewendet werden, wenn die unabhängigen Gruppen ihre programmatischen Aussagen an den unmittelbaren Erfahrungen der Arbeitenden orientieren, aber utopische Vorstellungen von einem besseren Leben nicht verstecken, sondern als zusätzliche Antriebsfeder nutzen.
Praktisches Verhalten und nicht den besserwisserischen Zuschauer spielen wird uns weiterbringen. D.h., den Kampf für die 35-Stunden-Woche durch eine breite, soziale Bewegung untermauern, neue Gedanken und bisher wenig praktizierte Organisationsformen beisteuem, eine politische Gegenkultur aufbauen, damit noch außerhalb stehende eine Vorstellung davon bekommen, daß unser Kampf für eine herrschaftslose Gesellschaft auch für sie ein lohnendes Ziel sein könnte.
(1) Das Referat von Oskar Negt ist als Sonderdruck des "Express" gegen Voreinsendung von 1,50 DM in Briefmarken erhältlich: Express, PF 591, 6050 Offenbach 4.
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