Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 287, März 2004

Nach dem 1. 11.: Richtig was tun!

Wie weiter nach der Demo der Hundertausend in Berlin?

Die hunderttausend Demonstranten am 1. 11. 2003 in Berlin gegen Sozialkahlschlag werden landauf und landab von der marginalen deutschen Linken als großes Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs angesehen. Inzwischen sind vier Monate vergangen und die alles plattmachende antisoziale Dampfwalze ist bisher keineswegs aufgehalten worden.

Allenfalls kann von gewissen Irritationen und Verunsicherungen an der sozialdemokratischen Basis gesprochen werden, die bisher nur zu einer kleineren Umgruppierung des Führungspersonals in der Partei geführt haben.

"(DGB - SPD) x (ML-Sekten) = NSB (Neue soziale Bewegung)". In dieser von Jürgen Elsässer in der Jungen Welt vom 10. 11. 2003 als Erfolgskonzept aufgestellten Gleichung fehlt natürlich die in seinen Kreisen offensichtlich Unbekannte X, die Mehrheit der vom Sozialabbau betroffenen Bevölkerung.

Was ist seit dem 1. 11. passiert? Ein paar Sozialforen sind inzwischen in verschiedenen Städten hinzugekommen und haben ihre Arbeit aufgenommen. In Wiesbaden demonstrierten am 18. Januar 2004 über 50.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes gegen die Kahlschlagpläne von Hessens Ministerpräsident Koch, breite Studentenproteste gegen die Kürzungen im Bildungsbereich flammten einige Wochen auf und zahlreiche kleinere und kleinste Demonstrationen und Aktionen gegen Sozialabbau fanden mit unterschiedlichem Erfolg in den Regionen statt.

In NRW hat mittlerweile die letzte CVJM-Gruppe gemerkt, was die Stunde geschlagen hat und sich an der Volksinitiative für ein Jugendfördergesetz und die Rücknahme der geplanten Kürzungen in diesem Bereich beteiligt. NRW-weit haben 174.000 Menschen innerhalb kurzer Zeit in den Bürgerämtern und auf den Straßen unterschrieben. Medienwirksam wurden die Unterschriften in den jeweiligen Städten beispielsweise von den Vertretern des Jugendringes den verständnisvoll grinsenden Oberbürgermeistern übergeben und in spätestens einem halben Jahr wird über dieses Anliegen im Landtag noch einmal geredet werden. Einerseits hat also das Unbehagen eine gewisse Breite innerhalb der Bevölkerung erreicht, andererseits sind es doch noch recht moderate und zahme Proteste geblieben.

Nun hat das Europäische Sozialforum in Paris im Herbst letzten Jahres zu europaweiten Protesttagen gegen den Sozialkahlschlag am 2. und 3. April aufgerufen. ATTAC und der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich dem Aufruf angeschlossen. Angekündigt wurden zentrale Großdemonstrationen am Samstag und betriebliche und lokale Aktionen am Vortag.

Am 17. und 18. Januar diskutierten in Frankfurt fast 600 bundesweit angereiste Menschen auf einer Aktionskonferenz die Vorbereitung und konkrete Ausgestaltung der zwei Protesttage im April. Es wurde deutlich, dass es in den letzten Wochen zu einer Annäherung zwischen den DGB-Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen gekommen ist. Gemeinsam verständigte man sich relativ schnell, am 3. April in Berlin, Köln und Stuttgart Großdemonstrationen durchzuführen.

Bei der Diskussion, inwiefern über "Feiertagsproteste" (A. Roy) hinaus für den Vortag betriebliche Aktionen propagandiert werden sollten, gab es erhebliche Unstimmigkeiten. Ausgerechnet die ATTAC-Vertreter hatten aus "bündnispolitischer Rücksichtnahme" auf den DGB versucht, Aufrufe zum Streik in den Betrieben zu vermeiden. Dieser Position wurde von mehreren Teilnehmern vehement widersprochen.

Nachdem die DGB-Gewerkschaften ernsthaften Widerstand gegen den Sozialkahlschlag im letzten Jahr weitgehend aufgegeben haben, können sie natürlich nicht innerhalb weniger Wochen umschwenken und direkte Aktionen praktizieren – das haben sie längst "verlernt" und wollen dies auch nicht.

In einer Zeit, in der sich der DGB inzwischen allein für seine Existenz in der Öffentlichkeit entschuldigen muss, ist es ihm jetzt ganz angenehm, wenn er Zuspruch und Beistand von den sozialen Bewegungen erhält. Der DGB-Bundesvorstand hat am 21. Januar die Unterstützung der Demonstrationen in den drei Städten beschlossen und orientiert eindeutig auf "breite Bündnisse". Über die vom europäischen Gesamtbündnis verabredeten betrieblichen Aktionen am Vortag der Demonstrationen wird allerdings in den offiziellen DGB-Medien kein einziges Wort verloren! Der Aktionstag am 2. April findet für den DGB einfach nicht statt!

Der Einsatz der "vollen Organisationskraft" bei politisch genehmen Demonstrationen und vornehme Zurückhaltung in und vor den Betrieben – das ist die neue strategische Hauptlinie des DGB. Dabei ist klar, dass der Unterschied zwischen 30 und 50 tausend Demonstranten in jeweils einer Stadt nur ein gradueller ist und eine gezielte Vorbereitung auf einen politischen Streik eine ganz andere, neue Qualität in die Auseinandersetzung einbringen würde. Doch hierzu läßt sich zur Zeit nur eine deutliche Minderheit von Gewerkschaftlern bewegen.

Insgesamt sind die beiden Aktionstage nur ein Glied innerhalb einer dichten Kette von Großveranstaltungen im Frühjahr: Am 20. März ist der internationale Aktionstag für soziale Gerechtigkeit und Frieden, ab dem 10. April findet der Ostermarsch statt und vom 1. Mai will ich lieber nicht sprechen....

Der offizielle DGB-Taschenkalender für das Jahr 2004 verkündet auf dem beigelegten Lesezeichen den hintergründigen Spruch von Karl Kraus: "In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige". Wir werden den DGB daran erinnern, was das ist.

 

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