Originalbeitrag August 2023
Der Putsch in Chile und die Solidaritätsbewegung in Hamm
Vor 50 Jahren fand am 11. September 1973 in Chile der von den USA unterstützte Militärputsch gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung der Unidad Popular unter Präsident Salvator Allende statt. Bei dem Putsch wurden tausende Menschen ermordet. General Augusto Pinochet führte die Diktatur bis 1990 an. Die Empörung und das Entsetzen über diesen massiven Gewaltakt war in der Welt sehr groß, Hunderttausende gingen auf die Straße und protestierten.
Am 30. September 2023 fand vom "Linken Forum Hamm" eine Veranstaltung zum 50. Jahrestages des Putsches in Chile mit der Musikgruppe Contraviento aus Münster statt. Hier werden im Anschluss an die Dokumentation der Hammer Soliarbeit nach 1973 einige Fotos über die Veranstaltung von 2023 dokumentiert.
In dem zweiten Teil dokumentiere ich den Artikel "Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?" aus der englischsprachigen Zeitschrift "Peace News", der in der Zeitschrift "Graswurzelrevolution" Nr. 7 (1974) übersetzt und gedruckt wurde.
Auch in Hamm gab es zahlreiche Aktivitäten und Veranstaltungen zum Putsch in Chile. Ich war damals erst ein Jahr politisch aktiv und und musste mitansehen, wie eine demokratisch gewählte Linksregierung vom Militär zerstört wurde. Es war ein großer Einschnitt. In diesem Artikel versuche ich, die unterschiedlichen Aktivitäten der verschiedenen linken Gruppen in Hamm nachzuzeichnen. Glücklicherweise habe ich die alten Flugblätter und Zeitungsartikel noch in meinem Archiv. Für weitere Hinweise und Ergänzungen bin ich dankbar.
Kurz nach dem Putsch
Bereits wenige Tage nach dem Putsch fand am Samstag, den 15. September 1973 in Dortmund eine Solidaritätsdemonstration statt, zu der auch von Hamm aus mobilisiert wurde. Eine Woche später kamen in Köln zur überregional organisierten Kundgebung 10.000 Menschen. In den ersten zwei Tagen nach dem Putsch demonstrierten in 64 Städten der BRD etwa 150.000 TeilnehmerInnen (1).
In Hamm wurde in den ersten Monaten von Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG/VK) ein vierseitiges Faltblatt vom Sozialistischen Büro (SB), einem damals sehr einflussreichen linkssozialistischen Netzwerk, verteilt. Darin wurde auch die Frage hinsichtlich der BRD gestellt: "Was geschieht, wenn die Masse der Bevölkerung sich ihrer Lage bewusst wird wie in Chile? Werden dann auch die Militärs eingreifen?"
Der DFG/VK-Vorsitzende Jochen Sesebusch schrieb im Namen seiner Organisation in einem vom Westfälischen Anzeiger (WA) am 18. 9. 1973 veröffentlichen Brief an den chilenischen Botschafter in der BRD: "Der Versuch einer reaktionären Offiziersclique, mit Hilfe brutaler Gewalt die Entscheidung des chilenischen Volkes zu liquidieren, stößt bei uns auf tiefe Abscheu."
Im Jahr 1973 wurde in Hamm der "Aktionskreis Demokratie" (AKD) gegründet. In ihm arbeiteten folgende Organisationen zusammen: DFG/VK, Jusos, Jungdemokraten, SJD - Die Falken und DGB Gewerkschaftsjugend. Etwas später kam noch die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden (SodZDL) hinzu. Einige Flugblätter wurden zusätzlich von dem Arbeitskreis Demokratischer Soldaten (ADS) Hamm und Ahlen unterzeichnet.
Geflüchtete
Nach dem Putsch versuchten tausende ChilenInnen vor der brutalen Repression zu fliehen. Das Hochkommissariat der Europäischen Union richtete ein Auffanglager für Flüchtlinge in Chile ein, das auf Druck der Militärs bis zum 31. Januar 1974 aufgelöst werden musste. Die BRD hat sich bereit erklärt, 619 Flüchtlinge aufzunehmen. Michael Thon für die Jusos und Thomas Wehmeier für die Jungdemokraten forderten am 12. 1. 1974 die Stadt Hamm in einem offenen Brief an den damaligen Oberbürgermeister Günter Rinsche von der CDU auf, Flüchtlinge aufzunehmen und den Hammer Bahnhofvorplatz in Allendeplatz umzubenennen, um so ein weiteres Zeichen der Sympathie mit diesen Verfolgten zu setzen.
Diese Anregung wurde vom Rat der Stadt Hamm abgelehnt. Daraufhin wurde ein als Traueranzeige mit schwarzem Rahmen versehenes Flugblatt in hoher Auflage in Hamm verteilt. In den drei Lokalzeitungen Westfälische Rundschau, Westfälischer Anzeiger und Westfalenpost wurde teilweise ausführlich darüber berichtet. 18 Monate später fand am 13. September 1975 eine symbolische Umbenennung des Platzes durch den AKD statt.
Die Probleme der wenigen chilenischen Geflüchteten, die überhaupt aufgenommen wurden, waren sehr massiv. Die DKP Unna-Hamm berichtete im Februar 1974 in einem Flugblatt über die skandalöse Behandlung der ChilenInnen:
"Nachdem die im Durchgangswohnheim Unna-Massen untergebrachten Flüchtlinge faktisch isoliert werden sollten, wurde ihnen am Vormittag des 30. 1. 1974 mitgeteilt, daß sie am 31. 1. 1974 um 8.30 Uhr in drei Städte NRW´s transportiert würden. Ohne dass die Städte genügend vorbereitet waren, wurden die Flüchtlinge dorthin gebracht. (...) Die Notunterkünfte in Oberhausen waren jedoch nicht bezugsfertig. (...) In Gelsenkirchen wurde den Flüchtlingen zugemutet, in bessere Ställe einzuziehen. Es waren weder Stühle, Tische noch Betten vorhanden. Es fehlten Licht und Stromanschlüsse. Die meisten Räume waren nicht beheizbar. Nach langem hin und her gelang es, 15 chilenische Flüchtlinge in einem städtischen Altersheim für die Nacht unterzubringen. Da die 25 chilenischen Flüchtlinge, darunter 4 Kinder, bei der Stadtverwaltung keinen Willen sahen, ihnen zu helfen und den Mitgliedern der DKP es Seitens des Oberstadtdirektors untersagt wurde, Hilfe zu leisten, verließen die enttäuschten und empörten Flüchtlinge das Altersheim und wünschten, in das Durchgangswohnheim Unna-Massen zurückgebracht zu werden.
Diese empörende Behandlung hatte u. a. zur Folge, daß eine im 4. Monat schwangere Frau zur stationären Behandlung in das Elisabeth-Krankenhaus nach Gelsenkirchen-Erle gebracht werden mußte und eine andere junge Frau ohnmächtig wurde und ärztliche Hilfe brauchte. (...) Die DKP Unna-Hamm sammelte spontan über 500 DM für die Flüchtlinge in Unna-Massen."
1974: Solidaritätswoche
Im September 1974 fanden zum ersten Jahrestag des Putsches die umfangreichsten Solidaritätsbekundungen in Hamm statt. Der Aktionskreis Demokratie (AKD) stellte im Rahmen der Chile-Woche ein umfangreiches Programm auf die Beine. Während der ganzen Woche fanden in der Fußgängerzone Infostände mit Flugblattverteilung statt. In dem Flugblatt "Ein Jahr Militärterror in Chile" wurden die Errungenschaften der Unidad Popular konkret benannt und dargestellt, warum diese kapitalfreundlichen Kräften ein Dorn im Auge waren.
+ Am 23. und 24. September wurden im Jugendclubhaus des DGB und im Jugendzentrum Bockum-Hövel der aktuelle Film "Venceremos" gezeigt.
+ Am 25. September berichtete der katholische Priester Wilhelm Köhling über seine dramatischen Erlebnisse direkt nach dem Putsch in Chile: Ermordungen und Folterungen waren an der Tagesordnung.
+ Am 26. September fand die Aufführung des münchener Politkabaretts "Rote Rübe" mit dem Stück "Terror" im Freiherr v. Stein Gymnasium statt. Es kamen ca. 150 BesucherInnen.
+ Am 27. September fand eine Podiumsdiskussion mit Vertretern von CDU, SPD und AKD in der Theodor Heuss-Schule statt zum Thema "Chile und BRD".
+ Am 28. September kamen etwa 200 BesucherInnen zur Chile-Solidaritätsfete mit Live-Musik, Filmen und Chile-Quiz. Eine Frage vom Quiz lautete: "Über welche westeuropäischen Parteien wurde Geld an die Gegner der Allende-Regierung geleitet?" Und der WA berichtete von "einer Verlosung von Produkten aus den unterentwickelten Ländern" – ein Vokabular, das heute hoffentlich niemand mehr benutzt!
Die Chile-Woche war ein großer Erfolg und auch die Berichterstattung in den lokalen Medien recht ausführlich. Am 30. Januar 1975 zeigte der AKD im Jugendclubhaus des DGB den aktuellen Film "Chile – der Kampf geht weiter".
Zum dritten Jahrestag des Putsches wurde ein Flugblatt des AKD aus einem weiteren besonderen Anlass verteilt. Ausgerechnet am 11. September 1976 fand in Hamm eine Truppenparade statt. Dies war Grund genug, um auf folgenden Vorfall hinzuweisen: "Einer der Offiziere dieser Militärdiktatur wurde bis Juli diesen Jahres an der Führungsakademie der Bundeswehr ausgebildet. Er rechtfertigte dort in einer Rede den Militärputsch und die Ermordung Allendes. Für diesen Vortrag erhielt der Offizier von den anwesenden deutschen Offizieren großen Beifall. – Von Offizieren, die bestimmt sind, die Armee unseres Landes zu befehligen!!!! Dieser Vorfall ist nur einer von vielen, die zeigen, daß auch von der Bundeswehr in der BRD Gefahren für die Demokratie ausgehen können. So übte die Bundeswehr den Einsatz gegen die eigene Bevölkerung im nordhessischen Treysa."
KBW
In Hamm entstand aus der Gruppe "Proletarische Linke" (PL) der maoistisch orientierte Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW). (Zur Geschichte des KBW siehe Anmerkung 2). Zusammen mit SJD – Die Falken (Unterbezirk Hamm) und einem Schülerkollektiv Hamm rief die PL bereits in den ersten Tagen nach dem Putsch zu einer Solidaritätsdemonstration am 15. September 1973 nach Dortmund auf. Das Flugblatt war betitelt mit: "Weg mit der konterrevolutionären Militärdiktatur – Für die Errichtung der bewaffneten Volksmacht". Verantwortlich im Sinne des Presserechts war übrigens Thomas Fatheuer. Nach einem nur kurzen Gastspiel im KBW leitete er Jahrzehnte später viele Jahre lang die Heinrich Böll-Stiftung in Brasilien, koordinierte das Amazonasprogramm des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) in Belém (wo in diesem Monat die große Amazonaskonferenz stattfand) und wurde bundesweit zu einem ausgewiesenen und gefragten Brasilienexperten, der heute noch regelmäßig beim Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung (FugE) Hamm sehr interessante Vorträge zu Lateinamerika hält (3).
Zum ersten Jahrestag des Putsches versuchte der KBW ein Chile-Komitee in Hamm unter seinen inhaltlichen Prämissen zu gründen und zu einer Großdemonstration in Frankfurt zu mobilisieren. Da aber die unter dem Aktionskreis Demokratie versammelten Organisationen nicht mit dem KBW zusammenarbeiten wollten, kam es nicht zu einer Kooperation. Klaus Köhler vom KBW versuchte in einem Brief an den AKD eine Zusammenarbeit zu erreichen, aber ohne Erfolg. Auch die DKP-Ortsgruppe Hamm distanzierte sich am 14. September 1974 in einem Leserbrief im Westfälischen Anzeiger vom KBW.
CDU und Junge Union
Ein besonderes Kapitel stellt die Haltung der CDU zu dem Putsch in Chile dar. Sehr bezeichnend war die Äußerung des damaligen CDU-Generalsekretärs Bruno Heck nach einem Besuch in Chile zum Terror gegen die Anhänger der Allende-Regierung in der Süddeutschen Zeitung am 18. 10. 1973: "Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm."
In der Schülerzeitung "J-aktiv" der Jungen Union Hamm titelten Reinhold Kaldewei und Inge Steimann auf Seite eins direkt nach dem Putsch: "Santiago, 11. September. Chiles Regierung gestürzt. Präsident Allende wählt Freitod" In dem Artikel lasteten die beiden Junge Union-Mitglieder die durch gezielte Sabotageakte der chilenischen Bougeosie und des CIA hervorgerufenen wirtschaftlichen Missstände der Allende-Regierung an und zweifelten die Legitimität der sozialistischen Regierung an, die "nur 43,39 %" der Stimmen bei den Wahlen bekommen habe. Weiter schrieben sie: "Wir verurteilen den Militärputsch, obwohl wir einsehen, daß die Zustände in Chile unerträglich zu werden drohten." - Diese Äußerungen müssen hier nicht näher kommentiert werden; sie sprechen für sich.
Reinhold Kaldewei, der bis heute durch eine ganze Reihe rechtskonservativ ausgerichteter Leserbriefe auffällt, forderte am 29. 9. 1973 die SPD zur Distanzierung von einem Flugblatt des Unterbezirks Hamm der Falken auf, weil sie zur oben schon erwähnten Solidaritätskundgebung in Dortmund auf einem Flugblatt mobilisierte. Und mehr noch, er forderte die Kappung finanzieller Zuschüsse für diesen Jugendverband: "Ich halte es für einen Skandal, wenn eine Organisation, die sich so eindeutig verfassungswidrig darstellt und den Bürgerkrieg als ‚einzigen Weg, der zu gehen ist’, sieht, weiter aus Steuergeldern finanziert wird". Im Grunde fordert Kaldewei in der Jugend- und Sozialpolitik die gleiche Obstruktionspolitik gegenüber seinen politischen Gegnern anzuwenden wie dies in Chile praktiziert worden ist, um dann die dadurch entstandenen Defizite anprangern zu können.
Am 15. 1. 1975 prangerte Kaldewei als Kreisvorsitzender der Jungen Union im Westfälischen Anzeiger an, dass der Aktionskreis Demokratie (AKD) zu einer Podiumsdiskussion zur anstehenden Bundestagswahl auch einen Vertreter der DKP eingeladen hatte und setzte sich für Berufsverbote ein: "Die Jugendorganisationen von SPD und FDP haben nichts aus der Geschichte gelernt, wenn sie sich dafür einsetzen, daß Kommunisten und Rechtsradikale als Lehrer, Richter oder Staatsanwälte unseren Staat unterwandern dürfen." – Auch diese Äußerungen sprechen für sich.
Abschliessend ist zu sagen, das in Hamm viele Menschen zu Veranstaltungen mobilisiert werden konnten, obwohl unsere Mittel für sie zu werben, nicht sehr groß waren. Auffällig im Nachhinein ist ebenfalls, dass ein Großteil der Flugblätter durch altertümliche Druckverfahren hergestellt wurden. Die einzelnen Buchstaben der Texte konnte mensch oft nur mit Mühe erkennen. – Aber mit der Mobilisierung es hat trotzdem recht gut geklappt.
Horst Blume
Anmerkungen
1) Siehe: Antiimperialistisches Informationsbulletin (AID) Nr. 11/12, 1973, Seite 44
2) https://fuge-hamm.org/?s=Fatheuer
3) Zum KBW: http://www.machtvonunten.de/medienkritik.html?view=article&id=162:die-kommune-ist-tot-es-lebe-die-commune&catid=17:medienkritik
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Die Veranstaltung vom „Linken Forum Hamm" zum 50. Jahrestages des Putsches in Chile mit der Münsteraner Gruppe Contraviento im AWO-Bürgerkeller in Hamm am 30. September 2023 war gut besucht und fand sehr viel Zuspruch!
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Aus: "Graswurzelrevolution. Zeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft" Nr. 7, 1974
Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?
Viele Gruppen auf der Linken haben den blutigen Militärputsch in Chile zum Anlaß genommen, einmal mehr die Unmöglichkeit und Vergeblichkeit des "friedlichen Wegs" zum Sozialismus zu konstatieren. Wir haben den Eindruck und wagen zu behaupten, daß dieser Schluß zumindest voreilig gezogen wurde und wird, daß ihm eine Unkenntnis und Unterschätzung gewaltfreier Kampftechniken zugrunde liegt. Diese Behauptung wird jedenfalls durch die Tatsache gestützt, daß diese Gruppen parlamentarischen Weg (also die Politik Allendes) und friedlichen Weg unkritisch gleichsetzen und die Möglichkeiten einer gewaltfreien revolutionären, jenseits von Parlamenten und etablierten Parteien sich formierenden Gegenmacht von unten nicht sehen.
Die Politik der Unidad Popular wird im allgemeinen als der schlechthin "friedliche Weg zum Sozialismus" dargestellt. Zwar führte Allendes Weg über die Wahlurne und das Parlament – insofern kam er ohne einen gewaltsam-revolutionären Akt an die Regierung, aber ist damit automatisch bewiesen, daß "friedlicher Weg" gleichzusetzen ist mit der Eroberung der Parlamentsmehrheit? Oder gibt es keine revolutionär-gewaltfreie Alternative? Diese Frage wird von denen, die vom wohlbehüteten Schreibtisch aus jetzt auf Kosten der chilenischen Massen Gewalt predigen, erst gar nicht gestellt.
Uns ist keine zufriedenstellende Analyse des friedlichen (d. h. parlamentarischen) Versuchs der Volksfront bekannt, den Sozialismus in Chile einzuführen. Aber auch die gewaltfreie Bewegung in der BRD hat die Analyse des chilenischen Experiments, während es noch im Gange war, vernachlässigt – sind wir doch jeder "revolutionären" Strategie gegenüber skeptisch eingestellt, die – durch Wahlen oder andere Mittel – nach der Staatsmacht strebt.
Nach unserer Auffassung muß die gewaltfreie Revolution auf der Eigenaktivität des Volkes basieren. Manchmal wird dies eine allmähliche eigenständige Reorganisierung der Gesellschaft von den "Graswurzeln" her sein, manchmal jedoch wird sie voller Erschütterungen sein. Die Revolution wird massive Kämpfe mit sich bringen, oft wird sie aufrührerische Formen annehmen wie Streiks, Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen der Nicht-Zusammenarbeit und ziviler Usurpation. Die Gegenstrukturen, die im Verlauf von gewaltfreien Kämpfen gebildet werden, sollten die Strukturen der Gesellschaft, die wir verwirklichen wollen, schon vorher formen. Durch diese Strukturen – z. B. Stadtteilkomitees oder Arbeiterräte – wird das Volk lernen, Initiative zu ergreifen und sein Leben selbst zu organisieren.
Dies ist in Chile viel zu spät und nur im Ansatz erkannt und praktiziert worden. Nachdem das Volk jahrelang durch Wahlen und parlamentarische Eiertänze irregeführt und abgelenkt worden war, erwachte das Mißtrauen der Arbeiterklasse gegenüber bürgerlichen Institutionen wie Parlament, Justiz und Armee erst Jahre nach dem Wahlsieg Allendes und nahm erst Monate vor dem September-Putsch – viel zu spät – organisatorische Formen in den Arbeiter- und Bauernräten an.
Eine gewaltfreie Revolution, wie wir sie sehen, muß sich auf diese wirklich öffentlichen Formen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation gründen. Dies ist mit dem parlamentarischen Weg grundsätzlich unvereinbar. Die Partei kommt durch ein System zur Macht, in dem Leute überredet werden, sich regieren zu lassen und auf ihre Selbstorganisation und Eigenverantwortung regelmäßig zugunsten von "gewählten Vertretern" zu verzichten.
Im parlamentarischen Sozialismus werden Veränderungen nicht auf die revolutionäre Praxis des Volkes gegründet, sondern werden außerhalb seiner Reichweite entworfen und zu Gesetzen gemacht. Das Volk übernimmt nicht die Produktionsmittel; vielmehr übernimmt der Staat "für das Volk" durch Verstaatlichung und wird dadurch seinerseits zum Arbeitgeber. Unter Umständen wird eine Partei die Eigenaktivität des Volkes innerhalb gewisser Grenzen zu fördern suchen – wie in China. Voksfrontregierungen lähmen in der Tat oft Kämpfe des Volkes, die unabhängig von der Regierungsmaschinerie, und oft gegen diese gerichtet, stattfinden wie etwa Fabrikbesetzungen.
Es kann nicht darum gehen, Allendes zweifellos hohe Verdienste und Bemühungen zu schmälern. Doch in der Bedrängnis durch die Opposition feindlich gesinnter Industriegesellschaften (USA, England, BRD), imperialistischer Regierungen und der einheimischen Bourgeosie war der parlamentarische Sozialismus eine unrealistische Strategie. Was er allenfalls zu bewirken in der Lage war, war gegenüber den Gegnern Zeit zu schinden und damit unweigerlich Chiles Sozialismus zu verwässern. Auf diese Weise wiederholte Allende eine Entwicklung, wie sie von sozialdemokratischen Bewegungen in Europa in ähnlicher Weise vollzogen wurde und wird. Den parlamentarischen Weg beschreiten heißt, eine Bewegung vom Volke absondern, was die Führer der Bewegung wiederum veranlasst, ihre eigene "politische Gewandtheit" höher zu bewerten als die revolutionäre Energie und Entschlossenheit des Volkes.
Trotzkisten und Maoisten bringen ebenfalls eine allgemeine Kritik des bürgerlich-parlamentarischen Weges vor, die der unsrigen im Wesentlichen ähnelt. Auch sie sehen die Zerbrechlichkeit eines sozialistischen Regimes, das vorübergehend einen bürgerlichen Staat regieren muß. Darum beharren sie mit Lenin auf der Notwendigkeit eines "proletarischen Staates" um die Kräfte der Konterrevolution zu unterdrücken; mit Mao auf der Zweckmäßigkeit, das Volk zu bewaffnen; und mit Che auf der vorrangigen Bedeutung, die Armee der herrschenden Klasse zu vernichten.
Wir meinen: das Volk HAT bereits die Mittel, die Revolution zu tragen. Wenn die Revolution wirklich das Werk des Volkes ist und seine Bestrebungen wiedergibt, wenn die revolutionären Organisationsformen wirklich direkt und partizipatorisch sind, wenn das Volk sich diese Formen selbst geschaffen hat, dann wird seine Solidarität genügen, im unbewaffneten Widerstand zu bestehen. Es ließe sich Beispiel für Beispiel aufreihen, angefangen von den Kosaken, die Befehlen keine Folge leisteten und 1917 in Petrograd sogar auf die Seite der Revolution überliefen bis hin zu den Armeen des Warschauer Paktes, die während des Einmarsches 1968 in die CSSR nach nur ein paar Tagen ersetzt werden mussten, um zu zeigen, daß Soldaten als Agenten der Repression ungeeignet sind, entweder weil sie von den revolutionären Massen unzuverlässig gemacht wurden oder sich ihnen unbewaffnete Kämpfer durch die Methoden der Nicht-Zusammenarbeit und des Massenungehorsams erfolgreich widersetzt haben.
Allende stürzte nicht, weil das chilenische Volk unbewaffnet war, sondern weil seine Art von Sozialismus nicht das Produkt der Aktivität des Volkes war.
Aber mit der Bewaffnung des Volkes wird die ganze Kette konterrevolutionärer Dynamik in Bewegung gesetzt: dezentralisierter Guerrilla-Kampf weicht in wachsendem Maße konventionellen Formen der Kriegführung und organisatorische Strukturen, die für den Militarismus charakteristisch sind, werden in die revolutionäre Bewegung eingebettet. Da Waffentechnik und Bewaffnung immer hochentwickelter werden und damit dem gemeinen Volk immer weniger zugänglich sind, wird die Kontrolle in einer Gruppe (Elite) konzentriert, die über die Verteilung verfügt; diese Gruppe wiederum gerät in Abhängigkeit von auswärtigen Lieferquellen. Und solche Abhängigkeiten werden dann nach außen als "proletarischer Internationalismus" verklärt.
Wir setzen dagegen: die Völker der Dritten Welt müssen das Recht haben und die Möglichkeit haben, ihre eigene Revolution selbst zu kontrollieren. Unsere Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt muß in erster Linie darin bestehen, ihnen die Last des imperialistischen Westens vom Rücken zu nehmen, d. h. die herrschende Gewalt zu mindern, gegen die sie sich zur Wehr setzen; und das dadurch, daß wir im eigenen Land den revolutionären Kampf aufnehmen.
Übersetzung aus "Peace News" vom 9. November 1973. Ein(e) Verfasser(in) wurde nicht genannt.
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Plakatausstellung "Diktatur und Widerstand - Solidarität mit Chile": Zu sehen bis zum 13. 10. 2023 in Münster, Frauenstraße 24
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