Originalbeitrag August 2023

Der Putsch in Chile und die Solidaritätsbewegung in Hamm

Vor 50 Jahren fand am 11. September 1973 in Chile der von den USA unterstützte Militärputsch gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung der Unidad Popular unter Präsident Salvator Allende statt. Bei dem Putsch wurden tausende Menschen ermordet. General Augusto Pinochet führte die Diktatur bis 1990 an. Die Empörung und das Entsetzen über diesen massiven Gewaltakt war in der Welt sehr groß, Hunderttausende gingen auf die Straße und protestierten.

Am 30. September 2023 fand vom "Linken Forum Hamm" eine Veranstaltung zum 50. Jahrestages des Putsches in Chile mit der Musikgruppe Contraviento aus Münster statt. Hier werden im Anschluss an die Dokumentation der Hammer Soliarbeit nach 1973 einige Fotos über die Veranstaltung von 2023 dokumentiert.

In dem zweiten Teil dokumentiere ich den Artikel "Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?" aus der englischsprachigen Zeitschrift "Peace News", der in der Zeitschrift "Graswurzelrevolution" Nr. 7 (1974) übersetzt und gedruckt wurde.

ChileAuch in Hamm gab es zahlreiche Aktivitäten und Veranstaltungen zum Putsch in Chile. Ich war damals erst ein Jahr politisch aktiv und und musste mitansehen, wie eine demokratisch gewählte Linksregierung vom Militär zerstört wurde. Es war ein großer Einschnitt. In diesem Artikel versuche ich, die unterschiedlichen Aktivitäten der verschiedenen linken Gruppen in Hamm nachzuzeichnen. Glücklicherweise habe ich die alten Flugblätter und Zeitungsartikel noch in meinem Archiv. Für weitere Hinweise und Ergänzungen bin ich dankbar.

Kurz nach dem Putsch

Bereits wenige Tage nach dem Putsch fand am Samstag, den 15. September 1973 in Dortmund eine Solidaritätsdemonstration statt, zu der auch von Hamm aus mobilisiert wurde. Eine Woche später kamen in Köln zur überregional organisierten Kundgebung 10.000 Menschen. In den ersten zwei Tagen nach dem Putsch demonstrierten in 64 Städten der BRD etwa 150.000 TeilnehmerInnen (1).

In Hamm wurde in den ersten Monaten von Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG/VK) ein vierseitiges Faltblatt vom Sozialistischen Büro (SB), einem damals sehr einflussreichen linkssozialistischen Netzwerk, verteilt. Darin wurde auch die Frage hinsichtlich der BRD gestellt: "Was geschieht, wenn die Masse der Bevölkerung sich ihrer Lage bewusst wird wie in Chile? Werden dann auch die Militärs eingreifen?"

"Putsch auch in Deutschland möglich?"Der DFG/VK-Vorsitzende Jochen Sesebusch schrieb im Namen seiner Organisation in einem vom Westfälischen Anzeiger (WA) am 18. 9. 1973 veröffentlichen Brief an den chilenischen Botschafter in der BRD: "Der Versuch einer reaktionären Offiziersclique, mit Hilfe brutaler Gewalt die Entscheidung des chilenischen Volkes zu liquidieren, stößt bei uns auf tiefe Abscheu."

Im Jahr 1973 wurde in Hamm der "Aktionskreis Demokratie" (AKD) gegründet. In ihm arbeiteten folgende Organisationen zusammen: DFG/VK, Jusos, Jungdemokraten, SJD - Die Falken und DGB Gewerkschaftsjugend. Etwas später kam noch die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden (SodZDL) hinzu. Einige Flugblätter wurden zusätzlich von dem Arbeitskreis Demokratischer Soldaten (ADS) Hamm und Ahlen unterzeichnet.

Geflüchtete

Flugblatt von Jusos und Jungdemokraten: 1000 ChilenenNach dem Putsch versuchten tausende ChilenInnen vor der brutalen Repression zu fliehen. Das Hochkommissariat der Europäischen Union richtete ein Auffanglager für Flüchtlinge in Chile ein, das auf Druck der Militärs bis zum 31. Januar 1974 aufgelöst werden musste. Die BRD hat sich bereit erklärt, 619 Flüchtlinge aufzunehmen. Michael Thon für die Jusos und Thomas Wehmeier für die Jungdemokraten forderten am 12. 1. 1974 die Stadt Hamm in einem offenen Brief an den damaligen Oberbürgermeister Günter Rinsche von der CDU auf, Flüchtlinge aufzunehmen und den Hammer Bahnhofvorplatz in Allendeplatz umzubenennen, um so ein weiteres Zeichen der Sympathie mit diesen Verfolgten zu setzen.

Diese Anregung wurde vom Rat der Stadt Hamm abgelehnt. Daraufhin wurde ein als Traueranzeige mit schwarzem Rahmen versehenes Flugblatt in hoher Auflage in Hamm verteilt. In den drei Lokalzeitungen Westfälische Rundschau, Westfälischer Anzeiger und Westfalenpost wurde teilweise ausführlich darüber berichtet. 18 Monate später fand am 13. September 1975 eine symbolische Umbenennung des Platzes durch den AKD statt.

 

Westfalenpost vom 15. 1. 1974: "Hamm soll Flüchtlinge aus Chile aufnehmen"Die Probleme der wenigen chilenischen Geflüchteten, die überhaupt aufgenommen wurden, waren sehr massiv. Die DKP Unna-Hamm berichtete im Februar 1974 in einem Flugblatt über die skandalöse Behandlung der ChilenInnen:

"Nachdem die im Durchgangswohnheim Unna-Massen untergebrachten Flüchtlinge faktisch isoliert werden sollten, wurde ihnen am Vormittag des 30. 1. 1974 mitgeteilt, daß sie am 31. 1. 1974 um 8.30 Uhr in drei Städte NRW´s transportiert würden. Ohne dass die Städte genügend vorbereitet waren, wurden die Flüchtlinge dorthin gebracht. (...) Die Notunterkünfte in Oberhausen waren jedoch nicht bezugsfertig. (...) In Gelsenkirchen wurde den Flüchtlingen zugemutet, in bessere Ställe einzuziehen. Es waren weder Stühle, Tische noch Betten vorhanden. Es fehlten Licht und Stromanschlüsse. Die meisten Räume waren nicht beheizbar. Nach langem hin und her gelang es, 15 chilenische Flüchtlinge in einem städtischen Altersheim für die Nacht unterzubringen. Da die 25 chilenischen Flüchtlinge, darunter 4 Kinder, bei der Stadtverwaltung keinen Willen sahen, ihnen zu helfen und den Mitgliedern der DKP es Seitens des Oberstadtdirektors untersagt wurde, Hilfe zu leisten, verließen die enttäuschten und empörten Flüchtlinge das Altersheim und wünschten, in das Durchgangswohnheim Unna-Massen zurückgebracht zu werden.

Diese empörende Behandlung hatte u. a. zur Folge, daß eine im 4. Monat schwangere Frau zur stationären Behandlung in das Elisabeth-Krankenhaus nach Gelsenkirchen-Erle gebracht werden mußte und eine andere junge Frau ohnmächtig wurde und ärztliche Hilfe brauchte. (...) Die DKP Unna-Hamm sammelte spontan über 500 DM für die Flüchtlinge in Unna-Massen."

1974: Solidaritätswoche

Im September 1974 fanden zum ersten Jahrestag des Putsches die umfangreichsten Solidaritätsbekundungen in Hamm statt. Der Aktionskreis Demokratie (AKD) stellte im Rahmen der Chile-Woche ein umfangreiches Programm auf die Beine. Während der ganzen Woche fanden in der Fußgängerzone Infostände mit Flugblattverteilung statt. In dem Flugblatt "Ein Jahr Militärterror in Chile" wurden die Errungenschaften der Unidad Popular konkret benannt und dargestellt, warum diese kapitalfreundlichen Kräften ein Dorn im Auge waren.

 

AKD-Flugblatt "Ein Jahr Militärterror in Chile"+ Am 23. und 24. September wurden im Jugendclubhaus des DGB und im Jugendzentrum Bockum-Hövel der aktuelle Film "Venceremos" gezeigt.

+ Am 25. September berichtete der katholische Priester Wilhelm Köhling über seine dramatischen Erlebnisse direkt nach dem Putsch in Chile: Ermordungen und Folterungen waren an der Tagesordnung.

WA vom 27. 9. 1974: "Vortrag über die Situation in Chile"+ Am 26. September fand die Aufführung des münchener Politkabaretts "Rote Rübe" mit dem Stück "Terror" im Freiherr v. Stein Gymnasium statt. Es kamen ca. 150 BesucherInnen.

+ Am 27. September fand eine Podiumsdiskussion mit Vertretern von CDU, SPD und AKD in der Theodor Heuss-Schule statt zum Thema "Chile und BRD".

+ Am 28. September kamen etwa 200 BesucherInnen zur Chile-Solidaritätsfete mit Live-Musik, Filmen und Chile-Quiz. Eine Frage vom Quiz lautete: "Über welche westeuropäischen Parteien wurde Geld an die Gegner der Allende-Regierung geleitet?" Und der WA berichtete von "einer Verlosung von Produkten aus den unterentwickelten Ländern" – ein Vokabular, das heute hoffentlich niemand mehr benutzt!

Flugblatt des AKD: Chile-FeteDie Chile-Woche war ein großer Erfolg und auch die Berichterstattung in den lokalen Medien recht ausführlich. Am 30. Januar 1975 zeigte der AKD im Jugendclubhaus des DGB den aktuellen Film "Chile – der Kampf geht weiter".

Zum dritten Jahrestag des Putsches wurde ein Flugblatt des AKD aus einem weiteren besonderen Anlass verteilt. Ausgerechnet am 11. September 1976 fand in Hamm eine Truppenparade statt. Dies war Grund genug, um auf folgenden Vorfall hinzuweisen: "Einer der Offiziere dieser Militärdiktatur wurde bis Juli diesen Jahres an der Führungsakademie der Bundeswehr ausgebildet. Er rechtfertigte dort in einer Rede den Militärputsch und die Ermordung Allendes. Für diesen Vortrag erhielt der Offizier von den anwesenden deutschen Offizieren großen Beifall. – Von Offizieren, die bestimmt sind, die Armee unseres Landes zu befehligen!!!! Dieser Vorfall ist nur einer von vielen, die zeigen, daß auch von der Bundeswehr in der BRD Gefahren für die Demokratie ausgehen können. So übte die Bundeswehr den Einsatz gegen die eigene Bevölkerung im nordhessischen Treysa."

KBW

Flugblatt der Proletarischen Linken Hamm vom 12. 9. 1973In Hamm entstand aus der Gruppe "Proletarische Linke" (PL) der maoistisch orientierte Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW). (Zur Geschichte des KBW siehe Anmerkung 2). Zusammen mit SJD – Die Falken (Unterbezirk Hamm) und einem Schülerkollektiv Hamm rief die PL bereits in den ersten Tagen nach dem Putsch zu einer Solidaritätsdemonstration am 15. September 1973 nach Dortmund auf. Das Flugblatt war betitelt mit: "Weg mit der konterrevolutionären Militärdiktatur – Für die Errichtung der bewaffneten Volksmacht". Verantwortlich im Sinne des Presserechts war übrigens Thomas Fatheuer. Nach einem nur kurzen Gastspiel im KBW leitete er Jahrzehnte später viele Jahre lang die Heinrich Böll-Stiftung in Brasilien, koordinierte das Amazonasprogramm des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) in Belém (wo in diesem Monat die große Amazonaskonferenz stattfand) und wurde bundesweit zu einem ausgewiesenen und gefragten Brasilienexperten, der heute noch regelmäßig beim Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung (FugE) Hamm sehr interessante Vorträge zu Lateinamerika hält (3).

Zum ersten Jahrestag des Putsches versuchte der KBW ein Chile-Komitee in Hamm unter seinen inhaltlichen Prämissen zu gründen und zu einer Großdemonstration in Frankfurt zu mobilisieren. Da aber die unter dem Aktionskreis Demokratie versammelten Organisationen nicht mit dem KBW zusammenarbeiten wollten, kam es nicht zu einer Kooperation. Klaus Köhler vom KBW versuchte in einem Brief an den AKD eine Zusammenarbeit zu erreichen, aber ohne Erfolg. Auch die DKP-Ortsgruppe Hamm distanzierte sich am 14. September 1974 in einem Leserbrief im Westfälischen Anzeiger vom KBW.

 

 

CDU und Junge Union

CDU 1973 zum Putsch in Chile: "Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm."Ein besonderes Kapitel stellt die Haltung der CDU zu dem Putsch in Chile dar. Sehr bezeichnend war die Äußerung des damaligen CDU-Generalsekretärs Bruno Heck nach einem Besuch in Chile zum Terror gegen die Anhänger der Allende-Regierung in der Süddeutschen Zeitung am 18. 10. 1973: "Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm."

In der Schülerzeitung "J-aktiv" der Jungen Union Hamm titelten Reinhold Kaldewei und Inge Steimann auf Seite eins direkt nach dem Putsch: "Santiago, 11. September. Chiles Regierung gestürzt. Präsident Allende wählt Freitod" In dem Artikel lasteten die beiden Junge Union-Mitglieder die durch gezielte Sabotageakte der chilenischen Bougeosie und des CIA hervorgerufenen wirtschaftlichen Missstände der Allende-Regierung an und zweifelten die Legitimität der sozialistischen Regierung an, die "nur 43,39 %" der Stimmen bei den Wahlen bekommen habe. Weiter schrieben sie: "Wir verurteilen den Militärputsch, obwohl wir einsehen, daß die Zustände in Chile unerträglich zu werden drohten." - Diese Äußerungen müssen hier nicht näher kommentiert werden; sie sprechen für sich.

 

Zeitung der Jungen Union Hamm (Reinhold Kaldewei und Inge Steimann) zum Putsch in Chile 1973Reinhold Kaldewei, der bis heute durch eine ganze Reihe rechtskonservativ ausgerichteter Leserbriefe auffällt, forderte am 29. 9. 1973 die SPD zur Distanzierung von einem Flugblatt des Unterbezirks Hamm der Falken auf, weil sie zur oben schon erwähnten Solidaritätskundgebung in Dortmund auf einem Flugblatt mobilisierte. Und mehr noch, er forderte die Kappung finanzieller Zuschüsse für diesen Jugendverband: "Ich halte es für einen Skandal, wenn eine Organisation, die sich so eindeutig verfassungswidrig darstellt und den Bürgerkrieg als ‚einzigen Weg, der zu gehen ist’, sieht, weiter aus Steuergeldern finanziert wird". Im Grunde fordert Kaldewei in der Jugend- und Sozialpolitik die gleiche Obstruktionspolitik gegenüber seinen politischen Gegnern anzuwenden wie dies in Chile praktiziert worden ist, um dann die dadurch entstandenen Defizite anprangern zu können.

Am 15. 1. 1975 prangerte Kaldewei als Kreisvorsitzender der Jungen Union im Westfälischen Anzeiger an, dass der Aktionskreis Demokratie (AKD) zu einer Podiumsdiskussion zur anstehenden Bundestagswahl auch einen Vertreter der DKP eingeladen hatte und setzte sich für Berufsverbote ein: "Die Jugendorganisationen von SPD und FDP haben nichts aus der Geschichte gelernt, wenn sie sich dafür einsetzen, daß Kommunisten und Rechtsradikale als Lehrer, Richter oder Staatsanwälte unseren Staat unterwandern dürfen." – Auch diese Äußerungen sprechen für sich.

Abschliessend ist zu sagen, das in Hamm viele Menschen zu Veranstaltungen mobilisiert werden konnten, obwohl unsere Mittel für sie zu werben, nicht sehr groß waren. Auffällig im Nachhinein ist ebenfalls, dass ein Großteil der Flugblätter durch altertümliche Druckverfahren hergestellt wurden. Die einzelnen Buchstaben der Texte konnte mensch oft nur mit Mühe erkennen. – Aber mit der Mobilisierung es hat trotzdem recht gut geklappt.

Horst Blume

 

Anmerkungen

1) Siehe: Antiimperialistisches Informationsbulletin (AID) Nr. 11/12, 1973, Seite 44

2) https://fuge-hamm.org/?s=Fatheuer

3) Zum KBW: http://www.machtvonunten.de/medienkritik.html?view=article&id=162:die-kommune-ist-tot-es-lebe-die-commune&catid=17:medienkritik

 

 Film: Chile - der Kampf geht weiter!

 

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Chile-Veranstaltung vom Linken Forum HammDie Veranstaltung vom „Linken Forum Hamm" zum 50. Jahrestages des Putsches in Chile mit der Münsteraner Gruppe Contraviento im AWO-Bürgerkeller in Hamm am 30. September 2023 war gut besucht und fand sehr viel Zuspruch!

 Chile-Veranstaltung vom Linken Forum Hamm

 

Chile-Veranstaltung vom Linken Forum Hamm

 

Chile-Veranstaltung vom Linken Forum Hamm

 

Chile-Veranstaltung vom Linken Forum Hamm in Westfälischer Anzeiger (WA)

 

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Aus: "Graswurzelrevolution. Zeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft" Nr. 7, 1974

Chile: Ist der friedliche Weg also unmöglich?

Viele Gruppen auf der Linken haben den blutigen Militärputsch in Chile zum Anlaß genommen, einmal mehr die Unmöglichkeit und Vergeblichkeit des "friedlichen Wegs" zum Sozialismus zu konstatieren. Wir haben den Eindruck und wagen zu behaupten, daß dieser Schluß zumindest voreilig gezogen wurde und wird, daß ihm eine Unkenntnis und Unterschätzung gewaltfreier Kampftechniken zugrunde liegt. Diese Behauptung wird jedenfalls durch die Tatsache gestützt, daß diese Gruppen parlamentarischen Weg (also die Politik Allendes) und friedlichen Weg unkritisch gleichsetzen und die Möglichkeiten einer gewaltfreien revolutionären, jenseits von Parlamenten und etablierten Parteien sich formierenden Gegenmacht von unten nicht sehen.

Graswurzelrevolution Nr. 7, 1974Die Politik der Unidad Popular wird im allgemeinen als der schlechthin "friedliche Weg zum Sozialismus" dargestellt. Zwar führte Allendes Weg über die Wahlurne und das Parlament – insofern kam er ohne einen gewaltsam-revolutionären Akt an die Regierung, aber ist damit automatisch bewiesen, daß "friedlicher Weg" gleichzusetzen ist mit der Eroberung der Parlamentsmehrheit? Oder gibt es keine revolutionär-gewaltfreie Alternative? Diese Frage wird von denen, die vom wohlbehüteten Schreibtisch aus jetzt auf Kosten der chilenischen Massen Gewalt predigen, erst gar nicht gestellt.

Uns ist keine zufriedenstellende Analyse des friedlichen (d. h. parlamentarischen) Versuchs der Volksfront bekannt, den Sozialismus in Chile einzuführen. Aber auch die gewaltfreie Bewegung in der BRD hat die Analyse des chilenischen Experiments, während es noch im Gange war, vernachlässigt – sind wir doch jeder "revolutionären" Strategie gegenüber skeptisch eingestellt, die – durch Wahlen oder andere Mittel – nach der Staatsmacht strebt.

Nach unserer Auffassung muß die gewaltfreie Revolution auf der Eigenaktivität des Volkes basieren. Manchmal wird dies eine allmähliche eigenständige Reorganisierung der Gesellschaft von den "Graswurzeln" her sein, manchmal jedoch wird sie voller Erschütterungen sein. Die Revolution wird massive Kämpfe mit sich bringen, oft wird sie aufrührerische Formen annehmen wie Streiks, Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen der Nicht-Zusammenarbeit und ziviler Usurpation. Die Gegenstrukturen, die im Verlauf von gewaltfreien Kämpfen gebildet werden, sollten die Strukturen der Gesellschaft, die wir verwirklichen wollen, schon vorher formen. Durch diese Strukturen – z. B. Stadtteilkomitees oder Arbeiterräte – wird das Volk lernen, Initiative zu ergreifen und sein Leben selbst zu organisieren.

 

Dies ist in Chile viel zu spät und nur im Ansatz erkannt und praktiziert worden. Nachdem das Volk jahrelang durch Wahlen und parlamentarische Eiertänze irregeführt und abgelenkt worden war, erwachte das Mißtrauen der Arbeiterklasse gegenüber bürgerlichen Institutionen wie Parlament, Justiz und Armee erst Jahre nach dem Wahlsieg Allendes und nahm erst Monate vor dem September-Putsch – viel zu spät – organisatorische Formen in den Arbeiter- und Bauernräten an.

Graswurzelrevolution Nr. 11/12, Winter 1974/75Eine gewaltfreie Revolution, wie wir sie sehen, muß sich auf diese wirklich öffentlichen Formen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation gründen. Dies ist mit dem parlamentarischen Weg grundsätzlich unvereinbar. Die Partei kommt durch ein System zur Macht, in dem Leute überredet werden, sich regieren zu lassen und auf ihre Selbstorganisation und Eigenverantwortung regelmäßig zugunsten von "gewählten Vertretern" zu verzichten.

Im parlamentarischen Sozialismus werden Veränderungen nicht auf die revolutionäre Praxis des Volkes gegründet, sondern werden außerhalb seiner Reichweite entworfen und zu Gesetzen gemacht. Das Volk übernimmt nicht die Produktionsmittel; vielmehr übernimmt der Staat "für das Volk" durch Verstaatlichung und wird dadurch seinerseits zum Arbeitgeber. Unter Umständen wird eine Partei die Eigenaktivität des Volkes innerhalb gewisser Grenzen zu fördern suchen – wie in China. Voksfrontregierungen lähmen in der Tat oft Kämpfe des Volkes, die unabhängig von der Regierungsmaschinerie, und oft gegen diese gerichtet, stattfinden wie etwa Fabrikbesetzungen.

Es kann nicht darum gehen, Allendes zweifellos hohe Verdienste und Bemühungen zu schmälern. Doch in der Bedrängnis durch die Opposition feindlich gesinnter Industriegesellschaften (USA, England, BRD), imperialistischer Regierungen und der einheimischen Bourgeosie war der parlamentarische Sozialismus eine unrealistische Strategie. Was er allenfalls zu bewirken in der Lage war, war gegenüber den Gegnern Zeit zu schinden und damit unweigerlich Chiles Sozialismus zu verwässern. Auf diese Weise wiederholte Allende eine Entwicklung, wie sie von sozialdemokratischen Bewegungen in Europa in ähnlicher Weise vollzogen wurde und wird. Den parlamentarischen Weg beschreiten heißt, eine Bewegung vom Volke absondern, was die Führer der Bewegung wiederum veranlasst, ihre eigene "politische Gewandtheit" höher zu bewerten als die revolutionäre Energie und Entschlossenheit des Volkes.

Trotzkisten und Maoisten bringen ebenfalls eine allgemeine Kritik des bürgerlich-parlamentarischen Weges vor, die der unsrigen im Wesentlichen ähnelt. Auch sie sehen die Zerbrechlichkeit eines sozialistischen Regimes, das vorübergehend einen bürgerlichen Staat regieren muß. Darum beharren sie mit Lenin auf der Notwendigkeit eines "proletarischen Staates" um die Kräfte der Konterrevolution zu unterdrücken; mit Mao auf der Zweckmäßigkeit, das Volk zu bewaffnen; und mit Che auf der vorrangigen Bedeutung, die Armee der herrschenden Klasse zu vernichten.

Wir meinen: das Volk HAT bereits die Mittel, die Revolution zu tragen. Wenn die Revolution wirklich das Werk des Volkes ist und seine Bestrebungen wiedergibt, wenn die revolutionären Organisationsformen wirklich direkt und partizipatorisch sind, wenn das Volk sich diese Formen selbst geschaffen hat, dann wird seine Solidarität genügen, im unbewaffneten Widerstand zu bestehen. Es ließe sich Beispiel für Beispiel aufreihen, angefangen von den Kosaken, die Befehlen keine Folge leisteten und 1917 in Petrograd sogar auf die Seite der Revolution überliefen bis hin zu den Armeen des Warschauer Paktes, die während des Einmarsches 1968 in die CSSR nach nur ein paar Tagen ersetzt werden mussten, um zu zeigen, daß Soldaten als Agenten der Repression ungeeignet sind, entweder weil sie von den revolutionären Massen unzuverlässig gemacht wurden oder sich ihnen unbewaffnete Kämpfer durch die Methoden der Nicht-Zusammenarbeit und des Massenungehorsams erfolgreich widersetzt haben.

Allende stürzte nicht, weil das chilenische Volk unbewaffnet war, sondern weil seine Art von Sozialismus nicht das Produkt der Aktivität des Volkes war.

Aber mit der Bewaffnung des Volkes wird die ganze Kette konterrevolutionärer Dynamik in Bewegung gesetzt: dezentralisierter Guerrilla-Kampf weicht in wachsendem Maße konventionellen Formen der Kriegführung und organisatorische Strukturen, die für den Militarismus charakteristisch sind, werden in die revolutionäre Bewegung eingebettet. Da Waffentechnik und Bewaffnung immer hochentwickelter werden und damit dem gemeinen Volk immer weniger zugänglich sind, wird die Kontrolle in einer Gruppe (Elite) konzentriert, die über die Verteilung verfügt; diese Gruppe wiederum gerät in Abhängigkeit von auswärtigen Lieferquellen. Und solche Abhängigkeiten werden dann nach außen als "proletarischer Internationalismus" verklärt.

Wir setzen dagegen: die Völker der Dritten Welt müssen das Recht haben und die Möglichkeit haben, ihre eigene Revolution selbst zu kontrollieren. Unsere Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt muß in erster Linie darin bestehen, ihnen die Last des imperialistischen Westens vom Rücken zu nehmen, d. h. die herrschende Gewalt zu mindern, gegen die sie sich zur Wehr setzen; und das dadurch, daß wir im eigenen Land den revolutionären Kampf aufnehmen.

Übersetzung aus "Peace News" vom 9. November 1973. Ein(e) Verfasser(in) wurde nicht genannt.

 

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Plakatausstellung "Diktatur und Widerstand - Solidarität mit Chile": Zu sehen bis zum 13. 10. 2023 in Münster, Frauenstraße 24

  Chileausstellung, Foto: Horst Blume

 

Chileausstellung, Foto: Horst Blume

 

Chileausstellung, Foto: Horst Blume

 

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Originalbeitrag Juni/Juli 2023

Gewaltfrei gegen das Atomkraftwerk in Hamm-Uentrop!

Dokumentation der 19 Folgen der Serie "Kein Atomkraftwerk in Uentrop" (1975 – 1978) von Theo Hengesbach

Nachdem die letzten Atomkraftwerke (allerdings nicht die UAA Gronau und die Atomfabrik in Lingen!) im April 2023 stillgelegt worden sind, wurde die Geschichte der Anti-Atom-Bewegung seit Anfang der 70er Jahre in verschiedenen Formaten (Zeitungsartikel, Buch, Ausstellung, Internet) rückblickend dargestellt.

Informationsdienst für gewaltfreie OrganisatorenAn dieser Stelle geht es um den Widerstand gegen den Thorium-Hochtemperaturreaktor (THTR) in Hamm-Uentrop. Baubeginn war 1971. Erster Widerstand regte sich allerdings erst 1975. Die reguläre vollständige Inbetriebnahme dieses Kugelhaufenreaktors fand nach vielen Schwierigkeiten erst 1985 statt. Nach erfolgreichen Mobilisierungen und zahlreichen Gewaltfreien Aktionen und Zivilem Ungehorsam der Bürgerinitiativen musste der von Anfang an umstrittene, pannenträchtige und immer teurer werdende Reaktor stillgelegt werden.

Mit den folgenden Texten beginnen wir eine höchst aufschlussreiche Reise in die allerersten Anfänge des Widerstandes gegen den THTR, der es im beschaulichen und recht konservativen Hamm erstmal schwer hatte, aber dann doch merklich an Fahrt gewann und nach 14 Jahren zur Stilllegung führte (1).

Wichtige Grundlagen für diesen Erfolg wurden bereits in den allerersten Jahren in der Orientierung auf eine verständliche Kommunikation mit der Bevölkerung und nachvollziehbare, sorgfältig vorbereitete und gut begründete Gewaltfreie Aktionen gelegt, die selbstkritisch ständig aufs Neue reflektiert wurden.

Theo Hengesbach

Die Impulse zur Gründung der Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm kamen auch aus der Gewaltfreien Aktion Arnsberg/Neheim-Hüsten (später Dortmund) und insbesondere von dem leider viel zu früh verstorbenen Theo Hengesbach (1954 – 2009), der uns nicht nur mit den Werken von Gandhi, M. L. King und vielen Anderen bekannt machte, sondern ebenfalls in intensiver Arbeit mit uns die Praxis der Gewaltfreien Aktionen einübte. Er blieb über Jahrzehnte der Bürgerinitiative in Hamm verbunden und beeinflusste uns mit seiner rücksichtsvollen, unaufdringlichen Art sehr (2).

Theo HengesbachÜber unsere gemeinsamen Erfahrungen berichtete Theo Hengesbach nicht nur in den Zeitschriften "Gewaltfreie Aktion", "Umweltmagazin" (BBU) und "Graswurzelrevolution", sondern insbesondere sehr ausführlich in dem von Helga und Wolfgang Weber-Zucht in Kassel herausgegebenen "Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren", der zeitweise monatlich eher für InsiderInnen und stärker Interessierte in einer Auflage von mehreren hundert Exemplaren erschien. Gewaltfreie Aktionsgruppen und Bürgerinitiativen konnten hier nur schwer erhältliche Informationen, wichtige Hinweise und Erfahrungen austauschen.

Theo hat mit insgesamt 19 Folgen über mehrere Jahre hinweg ausführlich in diesem "Info" über den Widerstand gegen den THTR berichtet. Er war gleichzeitig Akteur und reflektierender Berichterstatter. Seine in Hamm gemachten Erfahrungen flossen in die in der Bürgerinitiativbewegung viel beachteten Broschüren "Kein Atomkraftwerk mit unserm Geld" (Stromgeldverweigerung) und "Ziviler Ungehorsam. Überlegungen am Beispiel der Öklogiebewegung" (3) ein.

Ich habe noch nicht alle 19 Folgen der Serie "Kein Atomkraftwerk in Uentrop" lückenlos in meinem Archiv. Aber ich werde versuchen, sie alle hier zu dokumentieren. Ich fange also mit dem Teil 3 an und erweitere die Sammlung schrittweise. Auch einige zusätzliche Zeitungsartikel und Fotos werde ich hinzufügen.

Horst Blume

 

Anmerkungen

1) http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=307:rueckblick-15-jahre-buergerinitative-umweltschutz-hamm&catid=21:lokales-aus-hamm

2) http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=286:zum-tod-von-theo-hengesbach&catid=21:lokales-aus-hamm

3) https://www.reaktorpleite.de/thtr-rundbrief.html#Thema6

 

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 3, Dezember 1975, Heft 24

 

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 4, Januar 1976, Heft 25

 

 Westfälischer Anzeiger vom 14. 1. 1976

 

 Westfälischer Anzeiger vom 14. 1. 1976

 

 Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop". Welche Ausgabe, ist nicht ganz klar ...

 

 Zeitungsartikel: "Wochenanzeiger" vom 24. Januar 1976

     

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop". Welche Ausgabe, ist nicht ganz klar ...

 

 

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Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 5, Februar/März 1976, Heft 26

 

 Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 6, April 1976, Heft 27

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 6, April 1976, Heft 27

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 5, Februar/März 1976, Heft 26

 

"Westfälischer Anzeiger" (WA) vom 12. März 1976

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 5, Februar/März 1976, Heft 26 

 

 

 Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 7, Juni/Juli 1976, Heft 28

 

 Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 7, Juni/Juli 1976, Heft 28

 

 

 Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 8, August 1976, Heft 29

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 8, August 1976, Heft 29

 

 

 Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 8, August 1976, Heft 29

 

Foto: Horst Blume

 Foto: Horst Blume

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem linken Bild ist Theo Hengesbach als Zweiter von links zu erkennen.

Dieser Bericht im Netz und verschiedene Zeitungsausschnitte sind hier einzusehen:

http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=318:anti-atom-zeltlager-in-uentrop&catid=21:lokales-aus-hamm

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 8, August 1976, Heft 29

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 9, September 1976, Heft 30

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 9, September 1976, Heft 30

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 9, September 1976, Heft 30

 

Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, „Kein Atomkraftwerk in Uentrop" Teil 9, September 1976, Heft 30

 

 Foto: Horst BlumeFoto: Horst Blume

 

 

 

    Gewaltfreie Besetzung des Geländes am VEW-Informationszentrum 1976

   Foto: Horst BlumeFoto: Horst Blume

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Wird fortgesetzt!

 

 

 

 

 

 

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Originalbeitrag vom 11. März 2022

Fukushima, Krieg, Klima und mögliche Nuklearkatastrophe

Am Fukushima-Jahrestag (11. März 2022) habe ich während der Mahnwache auf dem Marktplatz in Hamm folgende Rede gehalten:

Die Umstände bringen es mit sich, dass wir heute nicht nur über Fukushima, sondern auch über Tschernobyl, Krieg, sowie Klima- und Nuklearkatastrophen reden müssen. Wir müssen leider festhalten, dass all das, wovor wir jahrzehntelang immer wieder gewarnt haben leider tatsächlich eingetreten ist.

Die Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima, die vor 11 Jahren stattfand, beschäftigen uns auch heute noch. 1,3 Millionen Tonnen hochradioaktives Kühlwasser will die japanische Regierung nächstes Jahr ungefiltert in das Meer einleiten. Das ist unverantwortlich!

Wir haben immer davor gewarnt, dass Atomkraftwerke bei kriegerischen Konflikten ein riesige Gefahr darstellen. Jetzt stehen die 19 Reaktorblöcke in der Ukraine in diesem Krieg teilweise direkt unter Beschuss. Granaten schlagen auf dem Reaktorgelände ein, Anlagenteile brennen.

Fukushima-Jahrestag 2022 in HammBeim Atomkraftwerk Tschernobyl gibt es keinen Strom mehr für die Notkühlung. Direkt am Gelände wird gekämpft. Wir alle schrammen haarscharf an einer Nuklearkatastrophe vorbei! Hätten wir vor einigen Monaten auf dieses Szenario hingewiesen, hätten uns manche Panikmache vorgeworfen!

Die Betreiber der Nuklearfabriken in Gronau und Lingen haben jetzt ihre Geschäftsbeziehungen zu Russland gekappt. Aber eben nur zu Russland. Von diesen beiden Fabriken wird der nukleare Brennstoff für über 30 Atomkraftwerke geliefert. Weltweit, auch in die Ukraine. Seit 2014 lieferte Urenco dieses radioaktive Material nach Saporischschja, das nur 200 Kilometer von der seit acht Jahren umkämpften Frontlinie liegt (1). Das war unverantwortlich!

Und diese Atomkraftwerke können auch das Material für Atombomben produzieren. Die zivile und die militärische Nutzung sind zwei Seiten einer Medaille. Viele Staaten wollen die uneffektive und teure Atomkraft nur deswegen haben, um an Atomwaffen zu kommen. Die Atomindustrie ist ein militärisch-industrieller Komplex!

Die Bundesregierung hat angesichts des Krieges verkündet, 100 Milliarden Euro für militärische Rüstung auszugeben. Ich halte fest: Dieses Geld wird für die Bekämpfung der Klimakatastrophe und den Ausbau erneuerbarer Energien fehlen! Und es wird fehlen für unzählige soziale Belange, die in diesem Land seit Jahren zukurz kommen (2)!

Jede Waffe, die von der Bundesregierung in das Kriegsgebiet geschickt wird, wird diesen Krieg nicht abkürzen, sondern verlängern! Es werden zehntausende Menschen sterben und die Ukraine wird bald komplett in Trümmern liegen. Wofür? Eine bessere Zukunft wird es aufgrund der Kriegsfolgen auf absehbare Zeit nicht geben. Wozu ist also dieser Krieg gut? Ist es für die Ukraine wirklich sinnvoll, ihren Kampf so zu führen, wie er jetzt geführt wird? Gibt es keine Alternativen?

Westfälischer Anzeiger vom 12. März 2022In den Medien werden zu diesem Krieg vorzugsweise Minister, Generäle, Boxer und Militärexperten befragt. Echte Friedens- und Konfliktforscher kommen fast nie zu Wort. Wir erleben gerade eine fatale Renaissance des militärischen Denkens. Grundsätzlich andere zivile Konflikt-Lösungsmöglichkeiten werden in den Medien kaum beachtet.

In den 70er und 80er Jahren haben wir als Bürgerinitiativbewegung folgende Kampfmethoden entwickelt: gewaltfreie Aktionen, Blockaden, Zivilen Ungehorsam und Boykott beispielsweise. In Zusammenarbeit mit der Friedensbewegung wurden diese Elemente zu einem Konzept geformt: Es ist die Soziale Verteidigung (3). In den 80er Jahren war sie Bestandteil des grünen Parteiprogramms (4) und im Bundestag fanden Hearings und Parlamentsdebatten zu diesem Thema statt. Es ist höchste Zeit, diese Themen wieder verstärkt in die Debatte einzubringen!

Wir sollten nicht nur weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, sondern auch Deserteure von beiden Seiten unterstützen und uns der Kriegsunlogik widersetzen!

Anmerkungen

1) https://taz.de/Lieferungen-von-Gronau-in-die-Ukraine/!5840693/

2) Als „Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm“ haben wir den aktuellen Aufruf von IPPNW und BBU mitunterzeichnet: http://ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Energiestatement_Ukrainekrieg.pdf

3) https://www.soziale-verteidigung.de/system/files/soziale_verteidigung_mit_kopf.pdf

4) Ab Seite 26: https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0024_gru_de.pdf

 

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Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 461, September 2021

PilgerInnen, Päpste und die Polizei

Repression gegen christliche Klima-AktivistInnen in Hamm

Immer wieder geht die Polizei brutal gegen gewaltfreie Proteste und Aktionen des Zivilen Ungehorsams vor. Für überregionales Aufsehen sorgte am 23. Juli 2021 ein Vorfall in Hamm, als eine Gruppe christlicher Klima-AktivistInnen von einem massiven Polizeiaufgebot angegangen wurde. (GWR-Red.)

Auf ihrem Weg von Gorleben nach Garzweiler gingen die christlichen PilgerInnen mit einem großen gelben Kreuz 19 Etappen von Station zu Station und machten auf den zerstörerischen Braunkohleabbau, die gefährliche Atomkraft und auf die Klimakatastrophe aufmerksam. Überall waren sie willkommen, und auch die jeweilige Polizei hatte nirgendwo etwas auszusetzen.

Bild mit Erlaubnis von der Homepage "Kreuzweg Gorleben-Garzweiler"Doch dann kamen sie nach Hamm, und gleich an der Stadtgrenze zwischen Feld und Wald begann der Ärger mit der örtlichen Polizei. Diese stellte den religiösen Charakter der Veranstaltung infrage und warf den etwa zwanzig PilgerInnen vor, den Kreuzweg zu politischen Zwecken zu missbrauchen und ihn nicht angemeldet zu haben. Sie beanstandeten ebenfalls das "Hungertuch" von "Misereor – Brot für die Welt" und ein Zitat von Papst Franziskus "Diese Wirtschaft tötet".

Was folgte, war eine beispiellose Eskalation seitens der Staatsmacht, die einen Vorgeschmack auf die zu erwartenden Folgen des geplanten verschärften Polizeigesetzes von Nordrhein-Westfalen gibt. Die äußerst aggressiven PolizistInnen gingen mit gezogenem Schlagstock auf die völlig gewaltfreien TeilnehmerInnen zu, andere richteten Pfefferspray auf sie. Das Rentnerehepaar von "Christians for Future" Aachen wurde von der Polizei zu Boden gestoßen und verletzt. Michael Zobel (Waldpädagoge in Garzweiler) wurde in Handschellen abgeführt, Kreuzträger Jonas festgenommen und auf das Polizeipräsidium Hamm gebracht.

Bild mit Erlaubnis von der Homepage "Kreuzweg Gorleben-Garzweiler"Insgesamt vier Polizeiwagen waren zur Stelle, um die PilgerInnen aufzuhalten. Diese begannen eine Andacht, was die Polizei sogleich als nicht angemeldete Kundgebung betrachtete. Einige TeilnehmerInnen versuchten, beschwichtigend mit der Polizei zu reden oder pastoralen Beistand herbeizutelefonieren. Zitat der Polizei: "Dann holen wir eben eine Hundertschaft und räumen Sie hier ab". (1)

Aus der Andacht heraus will die Polizei die Personalien von dem "Kreuzträger" feststellen. Als dieser sich nach längerer Diskussion zum nebenstehenden VW-Bus wendet, um seinen Personalausweis zu holen, wird er von PolizistInnen umringt. Denn dies wird als "Flucht aus dem Polizeigewahrsam"" ausgelegt. Es kommt zu einer Anzeige wegen „versuchter Gefangenenbefreiung“. Weiterhin wurde von der Polizei beanstandet, dass ein Teilnehmer angeblich Filmaufnahmen gemacht hätte. Erst nachdem mehrere Pfarrer aus den umliegenden Gemeinden hinzugekommen waren, beruhigte sich die Situation langsam, und die Pilger konnten ihren Weg nach Hamm-Mitte fortsetzen, allerdings mit der Auflage, ihre Transparente nicht zu zeigen.

Foto: Horst BlumeDie persönlichen Berichte der schockierten TeilnehmerInnen am Spätnachmittag in den Fuge-Räumen (Forum für Umwelt und gerechte Entwicklung) über die aggressiven Attacken der Hammer PolizistInnen waren erschütternd. Niemand hatte mit so einer Eskalation gerechnet. Am Tag danach stellte die Lokalzeitung "Westfälischer Anzeiger" (WA) unter der bezeichnenden Überschrift "Polizei stellt Klima-Pilger" lediglich die Polizeiversion der Ereignisse dar, obwohl zwei Redakteure ein längeres Telefongespräch mit dem Sprecher der PilgerInnen geführt hatten. Tage später berichtete der WA ausführlicher und differenzierter. Der Grünen-Bürgermeister von Hamm und eine Linke-Bundestagsabgeordnete forderten Aufklärung, und zahlreiche Kirchenleute und -gruppen solidarisierten sich mit den PilgerInnen.

In vielen kirchlichen Medien wurde ebenfalls sehr kritisch über den Vorfall berichtet. Problematisch an den dort wiedergegebenen Aussagen finde ich allerdings, dass sie sich darüber beschweren, dass ihre religiöse Demonstration von der Polizei wie eine säkulare behandelt wurde. Unsere Ziele sollten keine religiösen Privilegien oder eine Besserstellung der Kirchen sein, sondern gleiche Rechte und Freiheiten für alle. Die rechtliche und faktische Besserbehandlung von Kirchen und Religiösen gehört abgeschafft. Es wäre ebenfalls wünschenswert, wenn in Zukunft die diesmalige rege Solidarität in Zukunft genauso engagiert bei Aktionen säkularer Gruppen gelebt werden könnte.

Foto: Horst Blume (Datteln)Die PilgerInnen zogen die nächsten zwei Tage – zeitweilig begleitet durch ein Polizeiboot – entlang des Datteln-Hamm-Kanals zum umstrittenen Kohlekraftwerk Datteln 4, wo eine Kundgebung mit einhundert Menschen stattfand. In verschiedenen Redebeiträgen wurden immer wieder Zitate von Päpsten eingestreut. Ich finde, das ist reichlich autoritätsfixiert und angesichts der ultrakonservativen Ansichten der Päpste und der vielen Verbrechen, die Teile der Amtskirche begangen haben, nicht gerade eine sehr überzeugende Argumentation.

Unterdessen wurden im "Westfälischen Anzeiger" mehrere Leserbriefe abgedruckt, die offenbaren, wie wenige Menschen bisher mitbekommen haben, unter welchen repressiven Bedingungen Demonstrationen oder Aktionen schon seit Jahren stattfinden müssen. Ein Leserbriefschreiber findet es völlig normal, dass PolizistInnen ähnlich wie HandwerkerInnen ihr "Handwerkszeug" Polizeiknüppel und Pfefferspray auch einsetzen oder dies androhen. Ein anderer hat sich zweimal Querdenken-Demonstrationen angesehen und schließt aus deren Beleidigungen und Verhalten gegenüber der Polizei umstandslos auf das Verhalten anderer DemonstrantInnen bei völlig anderen Themen und Situationen: Die Polizei hätte einen schwierigen Job und müsste deswegen immer in Schutz genommen werden.

"Ist die Hammer Polizei wirklich dialogfähig, wie es dieses Bild suggeriert?" Foto: Horst BlumeUm dieser Uninformiertheit begegnen zu können, reicht es nicht aus, in unseren kleinen Zeitungen und innerhalb unserer "Blase" wortreich die Polizeirepression zu beklagen. Auf solche Leserbriefe muss direkt geantwortet werden, die Diskussion persönlich gesucht und die Auseinandersetzung in den (a)sozialen Medien intensiviert werden.

Bleibt noch die Frage, warum ausgerechnet in Hamm die Polizei so repressiv gegen die gewaltfreien PilgerInnen vorging. Hier sind schon öfter rechtsradikale PolizeibeamtInnen aufgefallen. Zuletzt der Polizeimitarbeiter Thorsten Wollschläger von der rechtsterroristischen Gruppe S. Er konnte jahrelang seine Gesinnung offen ausleben, ohne belangt zu werden. Ideologisch unterfüttert wurden seine Ansichten von der geschichtsrevisionistischen und NS-täterverharmlosenden Hammer Polizeihistorienseite (2), die von den Hammer Polizeipräsidenten gefördert und bei dem derzeit laufenden Prozess in Stammheim gegen die Gruppe S. erwähnt wurde (siehe GWR 460).

Offensichtlich sind die wortreichen polizeioffiziellen Erklärungen, ab jetzt genauer hinzuschauen und Toleranz und Empathie gegenüber zivilgesellschaftlichen Gruppen walten zu lassen, nicht das Papier wert, auf denen sie stehen. Inzwischen ermittelt zu den Vorkommnissen während der Pilgerreise polizeiintern die benachbarte Polizei Dortmund. Es ist also keine unabhängige Untersuchung, die der Staatsanwaltschaft später zur Bewertung vorgelegt wird.

 

Anmerkungen:

(1) https://kreuzweg-gorleben-garzweiler.de/2021/07/23/bilder-polizeieinsatz-schloss-oberwerries-bei-hamm/?fbclid=IwAR1kQHRQQSoTirINsHIf8JLBbvHSw7t6W2i4oFInZtFSN0SqtmQU2lwpG_8

(2) http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=21:hamm-rechtsextremist-bei-der-polizei-unter-terrorverdacht&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

 

 

Lokales aus Hamm


 

Originalbeitrag vom April 2021

35. Tschernobyl-Jahrestag: Radtour zum THTR

35. Tschernobyl-Jahrestag am THTR Hamm. Foto: Horst BlumeEinen Tag vor dem Tschernobyl-Jahrestag fand in Hamm am Sonntag eine der größten Anti-Atomkraft-Demonstrationen der letzten Jahre statt. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm und Hamm gegen Atom veranstalteten eine Fahrradtour zum Thorium-Hochtemperaturreaktor (THTR) nach Uentrop.

Treffpunkt der FahradfahrerInnen war der Willy-Brandt-Platz am Hammer Hauptbahnhof. Anschließend fuhren wir Richtung Uentrop, um am Hindutempel auf die FreundInnen aus Beckum und Ahlen zu treffen und gemeinsam zum stillgelegten THTR zu fahren.

Die über 80 FahrradfahrerInnen gedachten nicht nur der Tschernobyl-Katastrophe in Russland im Jahr 1986, sondern erinnerten an den zeitgleichen Störfall im THTR, wo radioaktive Kugelbrennelemente sich im Rohrsystem des Reaktors verklemmt hatten. Bei dem Versuch sie freizublasen wurden sie zerstört und teilweise als Staub hinausbefördert, was zu einer erhöhten Strahlenbelastung in der Umgebung führte.

Der THTR als wichtiger Baustein der Generation IV-Reaktoren wird von der Atomindustrie weltweit trotz der schlechten Erfahrungen in Hamm immer noch als besonders sicher propagiert. Die bevorstehende Inbetriebnahme des HTR in China wird seit vielen Jahren verkündet, aber Probleme beim Bau führen auch hier zu erheblichen Verzögerungen. Beim THTR in Hamm ist zur Zeit nicht bekannt, ob und wann ein jahrzehntelang dauernder Rückbau stattfinden wird. Die 600.000 radioaktiven Brennelemente des THTR lagern immer noch in Ahaus in einer Lagerhalle, ein Endlager ist nicht in Sicht. Das Kapitel "Folgen der Atomkraft" ist in Hamm noch lange nicht abgeschlossen.

 

35. Tschernobyl-Jahrestag am THTR Hamm. Foto: Horst Blume35. Tschernobyl-Jahrestag am THTR Hamm. Foto: Horst BlumeBenigna Grüneberg erinnerte in ihrer Rede anschaulich, dass damals davon abgeraten wurde, Kinder im Sand spielen zu lassen, Gastronomen verstrahlte Lebensmittel vernichten mussten und BäuerInnen ihre Tiere nicht weiden lassen konnten. Werner Jäger-Kersting betonte für die BI Umweltschutz an die zahlreichen Aktionen, Großdemonstrationen und Blockaden, die von uns in der Zeit von 1986 bis 1989 durchgeführt worden sind, um diesen Pleitereaktor endlich stillzulegen. Viele der TeilnehmerInnen von damals waren nach 35 Jahren wieder auf dem Platz und erinnerten sich an den Schrecken, aber auch an den erkämpften Erfolg und gaben diese Erfahrungen an die Jüngeren weiter. Die Anti-Atom-Bewegung präsentierte sich an diesem Tag am THTR immer noch erstaunlich vital!

35. Tschernobyl-Jahrestag am THTR Hamm. Foto: Horst Blume

Weitere Infos:

Tschernobyl: Vergesslich in die Zukunft? - Zum THTR-Störfall

http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=293:20-jahre-nach-tschernoby-vergesslich-in-die-zukunft&catid=21:lokales-aus-hamm

THTR: 30 Jahre "Erhaltungsbetrieb"

http://www.machtvonunten.de/atomkraft-und-oekologie.html?view=article&id=235:thtr-30-jahre-erhaltungsbetrieb&catid=20:atomkraft-und-oekologie

Rückblick: 15 Jahre Bürgerinitative Umweltschutz Hamm

http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=307:rueckblick-15-jahre-buergerinitative-umweltschutz-hamm&catid=21:lokales-aus-hamm

35. Tschernobyljahrestag 2021am THTR Hamm. Foto: Horst Blume

35. Tschernobyljahrestag 2021am THTR Hamm. Foto: Horst Blume

35. Tschernobyljahrestag 2021: IG BCE - seine Gewerkschaft! Foto: Horst Blume 

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