Aus: "anti atom aktuell", Nr. 180, Mai 2007
Die vergessene Generation IV
Ein interessantes Hearing in Brüssel zur EU-Atompolitik
Am 25. März 2007 wurde das 50jährige Jubiläum der Römischen Verträge einschließlich des EURATOM-Vertrages von den Offiziellen in der EU abgefeiert. Aber nicht alle jubelten, sondern der links- und basisorientierte EU-Parlamentarier Tobias Pflüger lud auf seine Kosten etwa 70 AtomkraftgegnerInnen aus der Bundesrepublik zu einem Hearing in die heiligen Hallen der EU nach Brüssel ein. Und eine kleine Aktion am symbolträchtigen Atomium durfte am nächsten Tag selbstverständlich nicht fehlen.
Drei Mitglieder unserer Bürgerinitiative nahmen ebenfalls teil. Allerdings mit einem zusätzlichen Hintergedanken. Aus über 30jähriger Erfahrung wissen wir, dass die Umweltschutzbewegung auch bei dieser Veranstaltung mit absoluter Sicherheit nicht ein einziges Wörtchen über die europäische Reaktorlinie Generation IV, zu der der Thorium Hochtemperatur-Reaktor (THTR) gehört, verlieren würde. Und dies, obwohl die EU in ihrer Öffentlichkeitsarbeit keine Gelegenheit auslässt, die Werbetrommel für den Hochtemperatur- Reaktor zu rühren und Hunderte von Euro-Millionen für seine Entwicklung ausgibt.
Nach dem bereits beschlossenen ITER- und Druckwasser (ERP)- Projekt sind für die 20er Jahre dieses Jahrhunderts innerhalb der EU dutzende (!) von Neubauten dieser speziellen Reaktoren in Vorbereitung. Die alte Linie der 2. und 3. Generation soll ersetzt werden. Eine völlig neue strategische Ausrichtung der Nuklearpolitik wird zur Zeit von der EU vorbereitet und die Anti-AKW-Bewegung nimmt dies - von marginalen Ausnahmen einmal abgesehen - noch nicht einmal zur Kenntnis! Das war aber abzusehen und deswegen haben wir ein Extrablatt des THTR-Rundbriefes zu diesem Thema mit nach Brüssel genommen und verteilt.
Bei dem im EU-Gebäude streng auf zwei Stunden limitierten Hearing wurden mehrere interessante Vorträge zu Gorleben, zur UAA Gronau und zur Atommüllverschiebung nach Russland gehalten. Kernpunkt der Vorträge war die Vorstellung der 32seitigen aufschlussreichen Broschüre "Der EU-Verfassungsvertrag und die Atompolitik der Europäischen Union". Leider wiess sie eine gravierende Schwachstelle auf: Das bedeutendste nukleare Zukunftsprojekt der EU wurde nicht einmal erwähnt. Und zehn Minuten vor Ende der Veranstaltung, das haben wir ja in ähnlichen Fällen schon oft genug erlebt, hat dann Horst Blume in 3 Minuten versucht, das Versäumte wenigstens wieder in das Bewußtsein der Anwesenden zurückzurufen.
Der Euratom-Vertrag
In der Broschüre weist Tobias Pflüger auf das jetzt zur Debatte stehende 7. Forschungsrahmenprogramm (2007 bis 2011) der EU hin. Eine Verdoppelung der Ausgaben für die Atomforschung im Vergleich zum letzten Rahmenprogramm ist vorgesehen. Von den 2,751 Milliarden Euro für die EURATOM-Forschung entfallen 517 Millionen Euro für die Tätigkeiten der "Gemeinsamen Forschungsstelle auf dem Gebiet der Kerntechnik". Nicht erwähnt wird in der Broschüre, dass hierzu maßgeblich die Entwicklung der Generation IV-Reaktoren gehört.
Die Autorin Ursula Schönberger arbeitet in ihrer Studie sehr klar die Grundlagen der EUAtompolitik heraus: "Der Euratom-Vertrag wurde als einziger nicht mit dem EU-Verfassungsvertrag verschmolzen, sondern bleibt als eigenständiger Vertrag erhalten. Er wurde lediglich durch ein Protokoll im Anhang des Verfassungsvertrages an die neuen Verfassungsbestimmungen angepasst, v. a. im institutionellen und finanziellen Bereich. Die Europäische Atomgemeinschaft besitzt weiterhin eine eigene Rechtspersönlichkeit ... ." (...)
Während es in allen anderen Bereichen inzwischen zum Regelverfahren gehört, dass das Europäische Parlament als gleichwertiger Gesetzgeber neben Rat und der EU gestellt ist, blieb die Europäische Atomgemeinschaft jedoch von derartigen Demokratisierungstendenzen völlig unbehelligt. Im Gesamtbereich des Euratom-Vertrages verfügt das Europäische Parlament über keinerlei Entscheidungsbefugnisse. Der Großteil der Rechtsvorschriften im Strahlenschutzbereich wird auf Artikel 31, 2 EAGV gestützt. Danach werden sogenannte 'Grundnormen' vom Rat auf Vorschlag der Kommission festgelegt, das Parlament ist lediglich anzuhören. Das Gleiche gilt für die diversen finanziellen Programme von Euratom." EURATOM ist also ein einziger Selbstbedienungsladen für die Atomindustrie und gehört folglich abgeschafft!
Hochtemperatureaktoren
Frankreich, das EU-Land mit den mit Abstand meisten Atomkraftwerken, hat im letzten Jahr beschlossen, seinen veralteten Reaktorpark in Zukunft durch Generation IV-Reaktoren zu ersetzen. Ähnliche Signale sind aus Großbritannien zu hören. In den detaillierten Länderdarstellungen der Broschüre ist davon nichts zu lesen. Angesichts dieser weitreichenden strategischen Entscheidungen und der bereits getätigten konkreten Vorbereitungen ist das Fazit von Kapitelüberschrift "Noch gibt es keine Renaissance" reichlich blauäugig.
Die Technik für die 4. Reaktorgeneration wurde im nordrheinwestfälischen Forschungszentrum Jülich (FZJ) seit den 50er Jahren bis heute hin entwickelt. Jetzt steht die HTR-Linie weltweit von dem ganz großen Durchbruch. Erste Prototypen werden zur Zeit in Südafrika und China gebaut. Schon jetzt verdienen sich bundesdeutsche Firmen mit Lizenzvergaben und Bauaufträgen eine goldene Nase. Über den kleinen Umweg der EU-Finanzierung kann das FZJ im "Ausstiegsland" die nukleare Großoffensive der Energiekonzerne wissenschaftlich unterstützen. - Warum sollte sowas BRD-Umweltschützer interessieren??
Im 7. Forschungsrahmenplan von 2007 bis 2011 haben die EU-Gremien für das Joint Reserch Centre (JRC), zu dem massgeblich die 4. Generation- Entwicklung gehört, 517 Millionen Euro vorgesehen. — Das kann uns doch egal sein!!
Selbst unter den rotgrünen Regierungen im Land NRW und im Bund konnte das FZJ unbehelligt über 25 spezielle Forschungsarbeiten zum THTR durchführen. Innerhalb des 5. Rahmenplans (1998-2002) wurden in einem speziellen HTR-Netzwerk neun Forschungsprojekte zum Hochtemperatureaktor durchgeführt. Seit 2001 kommt dem von den USA initiierten "Generation IV International Forum" (GIF) eine wichtige internationale Vorreiterrolle zu. Es nehmen teil: Argentinien, Brasilien, EU, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada, Schweiz, Südafrika, Südkorea. Durch die EU ist die BRD mit eingebunden. Ein geschickter Schachzug, auf den FDP und CDU besonders stolz sind. - Aber das ist doch noch lange kein Grund, um selbst dagegen aktiv zu werden!!
Frankreich hat bereits im letzten Jahr beschlossen, den gesamten veralteten Reaktorpark von 40 Reaktoren durch Generation IV-Reaktoren ersetzen zu wollen. Der international agierende Konzern AREVA, zu dem auch 6.000 deutsche Mitarbeiter von Siemens und KWU gehören, wird diese Entscheidung zufrieden aufgenommen haben. - Aber sowas geht uns doch nichts an!
Umweltbewegung ignoriert Gefahr der Etablierung der HTR-Linie!
Innovationsminister Pinkwart und Wirtschaftsministerin Thoben haben in NRW eine beispiellose Propagandaoffensive für die verstärkte Forschung an der Kombination von HTR-Reaktoren und Wasserstoffproduktion gestartet. Bereits jetzt werden in NRW Millionen für diese Entwicklung ausgegeben. Vier neue Professuren wurden mit finanzieller Hilfe von ThyssenKrupp und RWE, die davon profitieren, eingerichtet. Eine Arbeitsgruppe sondiert, wie man am geschicktesten die lästige Ausstiegs- Beschlusslage umgehen kann. — Oh, das ist uns aber alles ein bischen zu kompliziert!
Inzwischen produzieren bundesdeutsche Firmen fleißig neue HTR-Teile für Südafrika. Die dortmunder Firma Uhde baut an der nuklearen Brennelementefabrik für den Pebble Bed Modular Reactor (PBMR; in Südafrika die Bezeichnung für den THTR) mit. RWE NUKEM (inzwischen übernommen von dem Finanzinvestor Advent) produziert Teile der Brennelemente. Und SLG Carbon aus Wiesbaden das Graphit hierfür. Die Essener Hochdruck Röhrenwerke (EHR), Zweigwerk Dortmund, liefern die Rohre für den Reaktor. Atomkraft "Made in Germany"!
Neue Reaktorlinien benötigen eine Vorlaufzeit von mindestens 15 bis 20 Jahren. Die EU-Entscheidungen, die HTR-Förderung der letzten 10 Jahre fortzusetzen (!), werden jetzt mit dem 7. Rahmenplan gefällt. Die Energiekonzerne und die EU haben schon beachtliche Eigenmittel investiert und angesichts der undemokratischen EU-Verfassung können wir sicher sein, dass das Geld letztendlich doch noch für das neue nukleare Abenteuer zusammenkommt. Die EU-Internetseiten sind voll mit Lobeshymnen auf die HTR-Linie und mit dutzendfachen Ankündigungen, die verschiedenen Forschungsprogramme und internationalen Kooperationen weiterzuverfolgen und massiv zu intensivieren.
Warum wird - verdammt noch mal - das alles ignoriert?? Wacht die Anti-AKW-Bewegung erst dann auf, wenn diese Reaktoren in 15 Jahren gleich dutzendfach in Europa gebaut werden? Wofür wird für jeden nachlesbar auf unserer Homepage seit Jahren haarklein über jeden einzelnen Schritt, den die EU in Richtung neue HTR-Linie macht, berichtet? Warum wird die Atomberichterstattung der "Graswurzelrevolution", die sich die letzten Jahre zu etwa einem Drittel mit der Generation IV befasste, offensichtlich konsequent ignoriert??
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