Aus: "Distel. Das Hammer Stadtblatt", Nr. 6, November 1983
OB Rinsche: Der Bürger als Feind
Grün-Alternative ins Rathaus!
Was der ehemalige Oberbürgermeister Günter Rinsche 1974 formuliert hat, ist seit Jahrzehnten gängige Praxis aller Ratsparteien in Hamm. Ob es sich um die Verhinderung des Thorium Hochtemperaturreaktors (THTR), die Müllverbrennungsanlage, das Baumsterben oder um den Sozialabbau geht – die Bürgerinteressen werden missachtet, ohne dass die herrschenden Parteien bisher dauerhafte und massive Gegenwehr befürchten müssen.
Hamms Oberbürgermeister Günter Rinsche sagt unverblümt und direkt, mit welchen Maßnahmen er Bürgerinitiativen austricksen und sogar durch die Polizei bekämpfen lassen will:
"Die Blockierungsstrategie: Die Verwaltung nimmt eine Bürgerinitiative zur Kenntnis, setzt ihr aber Widerstand entgegen, der von administrativen Maßnahmen oder Polizeieinsätzen bis zum Organisieren von Gegeninitiativen reichen kann.
Die Ignorierungsstrategie: Die Verwaltung nimmt die Aktivitäten der Bürgerinitiativen nicht zur Kenntnis und regelt auch nicht den Informationsfluss.
Die Indifferenzstrategie: Die Verwaltung nimmt eine Bürgerinitiative zwar zur Kenntnis, bietet aber keine Lösungsmöglichkeiten an.
Die Beteiligungsstrategie: Parteien versuchen, eine Bürgerinitiative gegebenenfalls zu unterlaufen.
Die Präsenzstrategie: Verwaltung und Parteien suchen die ständige Verbindung zu einer Bürgerinitive u. a. durch aktive Mitarbeit in führenden Positionen.
Die Solidarisierungsstrategie: Man erklärt sich – namentlich bei einer Opositionspartei – mit den Zielen einer Bürgerinitiative solidarisch.
Die Aufgreifstrategie: Die Verwaltung greift die Anliegen einer Bürgerinitiative sofort auf und leitet sie weiter."
(Aus: Günter Rinsche: "Struktur der Bürgerinitiativen", in: "Kommunalpolitische Blätter", Heft 2, 1974, Seite 138)
Politische Entscheidungen greifen immer stärker in die Lebensbedingungen der Bevölkerung ein, ohne dass sie die Möglichkeit hat, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Der Rat der Stadt Hamm wurde zu einer Kulisse degradiert, hinter der Schachzüge der Parteiapparate stattfinden und die Bürger immer weniger durchblicken, was hier gespielt wird. Die Exekutive (Stadtverwaltung) wird durch ihre hauptamtliche Tätigkeit immer mehr zum Spezialisten und ist deswegen gegenüber dem Rat und der Bevölkerung im Vorteil und nutzt dies auch weidlich auss. Nur gutangepasste Interessengruppen wie Unternehmerverbände oder Gewerkschaftsführung können bereits im Vorfeld von Ratsentscheidungen einwirken, indem sie direkten Zugang zu den Entscheidungsträgern haben bzw. mit ihnen verfilzt sind.
Während diese Gruppen beachtlichen Druck bei Nichterfüllung ihrer Forderungen androhen können, ist beispielsweise die Durchsetzungskraft im Bereich Umweltschutz schwer im Nachteil, weil keine einflussreichen Gruppen dahinter stehen. Entscheidungen, die aus dem bisherigen Zusammenspiel von Ratsparteien und Verwaltungen zustandegekommen sind und die Lebensverhältnisse einer großen Zahl von Bürgern verändern, ohne sie bei der Entscheidungsfindung einzubeziehen, sind nicht mehr legitimierbar und müssen durch andere Vertretungssysteme und Entscheidungsstrukturen ergänzt oder gar ersetzt werden.
Bei einer Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürger stellen komplizierte Detail- und Sachprobleme, die großes Expertenwissen erfordern, nicht das einzigste Problem dar, sondern hier geht es auch um Werte und Bewertungen, die je nach Interessenlage unterschiedlich sind.
Die bisherigen Versuche, die Kommunalpolitik in einigen Punkten zu korrigieren, waren sehr oft erfolglos oder aber die Energie einer Bürgerinitiative verpuffte nach einem spontanen Widerstand oder schnellem Erfolg. Langfristig organisierter Widerstand auf dem Gebiet der Kommunalpolitik bleibt die Seltenheit und dies nicht ohne Grund. Denn wie soll der Bürger selbst die ihm gewährten geringen Rechte wahrnehmen, wenn die „öffentliche Bekanntmachung“ einer Planung über kleingedruckte Anzeigen in der Tageszeitung erfolgt, ohne dabei verständliche Hinweise auf die zu erwartenden Nachteile und mögliche Alternativen zu erhalten?
Und noch weitergehender: Wenn die Bürgerbeiteiligung nicht auf die Rechte der Information, der Anhörung oder der rechtlichen Einwendung beschränkt bleiben soll, bedarf es nicht nur einer umfassenden Information seitens der Verwaltung und einer wirklich öffentlichen Diskussion, sondern auch selbstorganisierter Stützen, um den Etablierten gewachsen zu sein.
Es müssen sich also themenorientierte sowie stadtteilbezogene alternative Arbeitsgruppen bilden, die dann in der Auseinandersetzung mit den Bezirksvertretungen und dem Rat eine neue, offensive Form der Bürgerbeteiligung entwickeln können. Eine Möglichkeit, Schritte in diese Richtung zu tun, sehe ich in der Beteiligung einer grün-alternativen Liste an der Kommunalwahl am 30. 9. 1984.
Bereits bestehende autonome Arbeitsgruppen, Bürgerinitiativen und Einzelpersonen sollten möglichst bald damit beginnen, je nach ihren Interessen die für sie wichtigen kommunalpolitischen Vorstellungen zu formulieren, um sie dann aufeinander für ein kommunalpolitisches Programm abzustimmen.
Während die Grünen noch vor einem Jahr einer grün-alternativen Listengemeinschaft reserviert gegenüberstanden und ihrerseits eine offene grüne Liste propagiert hatten, ist heute mit mehr Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit zu rechnen, da die wenigen aktiven Mitglieder gar nicht in der Lage sein würden, die mit der Kommunalwahl zusammenhängenden Arbeiten zu bewältigen.
Bei der Kommunalwahl werden die Bezirksvertretungen und die Ratsmitglieder gewählt. Der Rat hat 59 Sitze, wovon grün-alternative drei erhalten, wenn sie 5 % der Stimmen bekommen. Der Rat tagt in der Regel einmal im Monat, die Ratsmitglieder erhalten ca. 450 DM monatlich. Ein Teil der Ratssitzung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und zwar laut Geschäftsordnung bei Liegenschaftsangelegenheiten; Planungsabsichten, die sich auf Grundststückswerte auswirken; Personalangelegenheiten; Auftragsvergaben; Angelegenheiten der Rechnungsprüfung, wenn die vertrauliche Behandlung der Angelegenheiten aus Gründen des öffentlichen Wohles oder im Interesse der Stadt geboten ist.
Themen, die im Rat behandelt werden, beraten vorher oft die Ausschüsse und Bezirksvertretungen. Viele Entscheidungen werden hier im Vorfeld schon getroffen. Bei 5 % würden die Grün-alternativen mindestens ein Mitglied in einem Ausschuss bekommen. Sehr wichtig sind auch die Bezirksvertretungen, von denen es in Hamm sieben gibt. Auch wenn die Grün-Alternativen nicht in ganz Hamm 5 Prozent erreichen würden, könnte dies jedoch in einzelnen Bezirken geschehen und sie damit ein Bezirksmandat erhalten (so geschehen vor fünf Jahren in Rhynern).
Bedingungen einer grün-alternativen Praxis
Für eine kleine grün-alternative Fraktion würde die Schwierigkeit bestehen, zu allen ihr wichtig erscheinenden Themen vorbereitete Statements abzugeben. Selbst wenn dies durch einen hohen Arbeitsaufwand bei den Sitzungsvorbereitungen geleistet werden könnte, besitzen die großen Parteien Informationsvorsprünge. Sie haben gute Beziehungen zur Verwaltung, zur landespolitischen Ebene und zu ihrem ausgebauten Parteiapparat.
Dazu kommt noch, dass sie Entscheidungen in den Ausschüssen vorstrukturiert werden. Bei nur einem Sitz in einem Ausschuss würde eine ungenügende und diskontinuierliche personelle Besetzung sowie mangelnde Sachkompetenz faktisch einen Ausschluss von der Politikgestaltung bedeuten!
Was übrig bliebe, wären nur noch Reaktionen in Form von verbalen Protesten auf bereits gefallenen Entscheidungen. Ein Ansatz in die richtige Richtung wäre der Versuch, durch unbequeme Anträge und Anfragen den Parteien und Verwaltungsapparat ins Stocken zu bringen, um Zeit zu gewinnen. Ihn zu Stellungnahmen und vielleicht auch zu Kopromissen zu zwingen, wenn andernfalls Folgen für sein Image in der Öffentlichkeit zu befürchten sind. Ein solches Vorgehen setzt allerdings funktionierende außerparlamentarische Strukturen voraus, die in der Lage sind, die Politik der Fraktion in der Öffentlichkeit zu vermitteln.
Da mit wenigen grün-alternativen Ratsmitgliedern keine Mehrheiten zu erreichen sind, ist nur außerparlamentarischer Druck in der Lage, den Anträgen genügend Gewicht zu verleihen, welches sie aus der numerischen Unterlegenheit herausheben könnte.
Der Staat und seine Parteien werden schon im Wahlkampf versuchen, die Grün-Alternativen zu isolieren und sie als hoffnungslose Außenseiter darzustellen. Das geht vor allem durch ein geschicktes Ausnutzen der Unerfahrenheit der Basisbewegung und einem rigorosen Anwenden komplizierter Geschäftsordnungen.
Erfolg oder Misserfolg dieser Strategie hängt aber auch davon ab, ob es uns gelingt, unsere politischen Alternativen in der öffentlichen Ratsitzung, aber vor allem in der Öffentlichkeit überzeugend darzulegen.
Die Anziehungskraft unserer Vorstellungen auf breitere Bevölkerungskreise ergibt sich also zum Teil daraus, dass wir uns in die Lage versetzen, zu den wesentlichen kommunalpolitischen Fragen konkrete Gegenpositionen zu formulieren und in der Öffentlichkeit dafür einzutreten. Das wird nicht immer leicht sein, zumal wir es oft mit Beratungsgegenständen zu tun haben werden, die von Bürgerinitiativen nicht abgedeckt sind. Doch auch das sich Sachkundigmachen bei Themen, bei denen die Alternativbewegung bisher wenig zu bieten hatte, eröffnet uns die Chance, Bürger aus anderen Lebenszusammenhängen anzusprechen.
Es muss allerdings darauf geachtet werden, dass ein Befassen mit kommunaler Kleinarbeit nicht zu einer Entpolitisierung wie bei linken SPDlern führt. Denn auch die sind in der Lage, Mängel als Mängel zu bezeichnen (z. B. fehlendes Geld für Kinderspielplätze). Greift man dagegen das Problem so auf, dass man es mit der nicht erfolgten Gewerbesteuererhöhung durch die etablierten Parteien in Verbindung bringt, so sprengt man damit den Rahmen des kommunalen Sachzwangs. Den politischen Zusammenhang herzustellen, also immer die Bedingtheit kommunaler Entscheidungspraxis von den Zentralregierungen herauszuarbeiten, ist unsere Aufgabe und ein guter Schutz gegen eine Entpolitisierung durch kommunalpolitisches Klein-Klein.
THTR
Wir müssen in den kommenden Monaten deutlich machen, dass die SPD sich vor der Diskussion über den THTR drücken will und den Sonderparteitag zum Thema Atomenergie abgeblasen hat, weil sie gleichzeitig von Gegnern wie von Befürwortern Stimmen absahnen will. Dass selbst linke Sozialdemokraten sich geweigert haben, den Aufruf zur Demonstration gegen den THTR am 17. September 1983 zu unterstützen, sollte im kommenden Wahlkampf laut gesagt werden. Ebenfalls ganz im Sinne der Eingangs erwähnten Empfehlungen zum Umgang mit Bürgerinitiativen verhält sich die SPD mit ihrem neuerdings groß in Szene gesetztem Friedens-Bla-Bla: Bundespolitisch in der Opposition kann sie ja erzählen was sie will, ohne dass es Folgen hätte und außerdem will sie den Grünen und Alternativen als lästigen Konkurrenten das Wasser abgraben. – Vermiesen wir ihr dieses schmutzige Geschäft gründlich!
Eine weitere Gruppierung, die sich aus Eigennutz grüner Themen annimmt ist die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), indem sie versucht, sich an alternativen Listen zu beteiligen. Mit wenig Erfolg. Denn fast alle Grünen sehen überhaupt nicht ein, warum man einer Partei den Eintrittsschein in die alternative Wahlbewegung geben sollte, die im Grunde nichts damit zu tun hat und die von ihren Zielvorstellungen her direkt eine gegnerische Partei ist. Thomas Ebermann von der GAL Hamburg formulierte das in der Deutschen Volkszeitung (DVZ) vom 6. November 1983 so:
"Wir haben ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Entwicklung der Produktivkräfte, zu dem was ihr wissenschaftlich-technischen Fortschritt nennt, und damit auch zur Gesamtproblematik der Ökologie, so wie sie im kapitalistischen und realsozialistischen System gleichermaßen existiert. Wir haben ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Problemen der Demokratie, zu Problemen der Meinungsfreiheit, zu Problemen der freien Gewerkschaften; unabhängig von der Verfasstheit des jeweiligen Staatssystems. Wir haben ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ich halte daher die DKP, im politischen Kern, für keine linke, für keine emanzipatorische Kraft. Ich denke, eine Kraft, die ein Verhältnis zur Demokratie hat, wie ihr es habt, kämpft in diesem System taktisch für mehr Demokratie, um wichtige Elemente der Demokratie abzuschaffen, wenn sie selbst an die Staatsmacht gekommen ist."
Die nächsten Schritte
Wer sich die Masse der Ausschüsse anschaut, dem wird klar, dass es angesichts der relativen Schwäche der Basisbewegung in Hamm nicht möglich sein wird, zu allen Themen gleichermaßen intensiv zu arbeiten. Folglich ist die Konzentration auf wichtige Schwerpunkte die einzig sinnvolle Lösung des Problems. Neben dem von den Grünen teilweise repräsentierten Aufgabenbereich Umweltschutz wären also noch Initiativen und Einzelpersonen zu den Schwerpunkten Jugendpolitik, Frauenpolitik, Sozialpolitik und Kulturpolitik anzusprechen.
Wollen die Basisinitiativen die Grünen nicht hoffnungslos überfordern, so ist es unabdingbar, dass sie einen Teil ihres bisher erarbeiteten Wissens und ihrer Zeit in eine gemeinsame grün-alternative Liste einfließen lassen. Natürlich sollen die Initiativen ihr Eigenleben und ihre Autonomie behalten.
Es wäre sinnvoll, wenn sich schon in den nächsten Wochen themenorientierte Arbeitsgruppen bilden würden, die dann mit den zum Teil noch zu gründenden Ortsverbänden in den Stadtteilen zu einer handlungsfähigen Grün-Alternativen Liste zusmmenwachsen. Bezirksvertretungen und Ratssitzungen sollten regelmäßig besucht werden und durch verstärktes Einbringen von Bürgeranträgen können wir uns auf die kommenden Aufgaben vorbereiten. NRW-weit angebotene Seminare zu kommunalpolitischen Themen sollten genauso genutzt werden, wie die Erfahrungen, die in grün-alternativen Kommunalprogrammen anderer Städte schon dokumentiert worden sind.
Benutzen wir also die Kommunalwahlen am 30. September 1984, um einen kompetenten, allumfassenden Angriff auf das Politikmonopol der etablierten Parteien und der Verwaltung zu starten!
Anmerkungen
Über den Bruder des ehemaligen Oberbürgermeisters der Stadt Hamm, Franz-Josef Rinsche, habe ich 1985 den Artikel "Ein Mann sieht rot!" geschrieben:
http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=311:franz-josef-rinsche-ein-mann-sieht-rot&catid=21:lokales-aus-hamm
Die GAL Hamm hat bis 1989 existiert und war im Rat mit vier MandatsträgerInnen vertreten. Dann hat sie sich aufgelöst und die Aktiven haben in der Partei "Die Grünen" weitergemacht. Eine etwas kritische Anmerkung über die Kandidatur von uns als Mitglieder der Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm bei der GAL findet sich in dem Rückblick "15 Jahre BI Umweltschtz Hamm" im Jahr 1991:
http://www.machtvonunten.de/lokales-aus-hamm.html?view=article&id=307:rueckblick-15-jahre-buergerinitative-umweltschutz-hamm&catid=21:lokales-aus-hamm
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