Aus: "Graswurzelrevolution", Beilage "Libertäre Buchseiten", Nr. 472, Oktober 2022

Zurückgeblieben im Braunraum

Joseph Beuys und der Nationalsozialismus

Das Verhältnis des Bildhauers, Aktionskünstlers und Zeichners Joseph Beuys (1921–1986) zum Nationalsozialismus und seine Äußerungen zu gesellschaftspolitischen Themen werden seit längerer Zeit kontrovers diskutiert. Inzwischen hat Ron Manheim ein akribisch recherchiertes Buch hierzu geschrieben. Er war viele Jahre lang Direktionsmitglied beim Museum Schloss Moyland am Niederrhein und baute dort seit 1991 das Beuys-Archiv auf.

Buch "Beim Wort genommen"Haarsträubende Geschichtsklitterung

Manheim legt Wert auf die Feststellung, dass er sich seit Jahrzehnten "mit uneingeschränkter Bewunderung" intensiv mit dem materialisierten Werk von Beuys auseinandersetzt. Jedoch hat er bei den zahlreichen schriftlich fixierten Gesprächen und Interviews mit dem Künstler jede Menge haarsträubende Geschichtsklitterungen, beschämende Fehlurteile und Beschönigungen seines eigenen Verhaltens sowie Relativierungen des Holocausts entdeckt. Das Buch heißt folgerichtig "Beim Wort genommen".

Hier sieht er sich genauer an, was Beuys über seine Schulzeit und Jugend in Kleve im Rückblick berichtete, und gleicht seine Aussagen mit der historischen Wirklichkeit ab. Der Behauptung Beuysʼ, es hätte in Kleve insbesondere unter den LehrerInnen kaum Nazis gegeben, seine Nichtbeachtung des schlimmen Schicksals der JüdInnen in dieser Stadt, in der aufgrund der Nähe zu den Niederlanden angeblich alles nicht so schlimm gewesen sei, setzt Manheim gut dokumentierte Fakten aus der Lokalgeschichtsschreibung entgegen.

Beuysʼ Lieblingslehrer, der ihm Jahre später wahrheitswidrig einen nicht erbrachten Abiturabschluss ausstellte, war ein fanatischer Nazi, der in Uniform unterrichtete und Jüdinnen und Juden drangsalierte. Manheim attestiert Beuys auch Jahrzehnte nach dem Holocaust eine erschreckende Empathielosigkeit gegenüber den jüdischen Opfern, obwohl inzwischen durch den aufsehenerregenden Eichmannprozess im Jahr 1961 und zahlreiche Dokumentationen in den Medien das ganze Ausmaß des Grauens für jede und jeden klar ersichtlich werden konnte.

"Feiger Pazifismus"

Beuys jedoch interessierte sich nicht dafür. Genauso wenig für die Situation der JüdInnen und ihre bedeutenden Beiträge im Kulturbereich. Ron Manheim weist an vielen Beispielen nach, dass Beuys als "Zeitzeuge" vor Schulklassen auch im Rahmen der documenta in Kassel den NS-Terror in eklatanter Weise verharmloste und bagatellisierte sowie die historische Wirklichkeit sehr oft in ihr Gegenteil verkehrte. Manheim fasst Beuysʼ Verhalten unter den Begriff "Ausblendungsantisemitismus" (S. 102) gut zusammen.

Auf seine Soldatenzeit bei der Luftwaffe im 2. Weltkrieg angesprochen, bestritt er den deutschen Bombenterror gegen gegnerische Städte und lehnte überdies "eine feige, pazifistische Haltung" (S. 73) ab. Die verbrecherischen Ziele der Wehrmacht blendete er aus und versuchte im Nachhinein alle als unmoralisch darzustellen, die sich an den Kriegshandlungen nicht beteiligen wollten. Mit der höchst zweifelhaften "Entnazifizierung" im Nachkriegsdeutschland war für ihn alles gut.

Manheim zeigt deutlich auf, dass Beuys die kriegsvorbereitenden, faschistischen Lerninhalte in der Schule und in den Schulbüchern ausdrücklich lobte, während er das Schulsystem in den 1970er-Jahren als "bolschewisiert" (S. 48) diffamierte, in den „Universitätsprofessoren“ das größte Übel in dieser Welt ausmachte und ihnen glatt die Mitschuld an zwei Weltkriegen zuschob. Manheim kritisiert diese abstrusen Fehleinschätzungen immer wieder sehr deutlich und spricht von einem Mangel an historischem Bewusstsein, grenzenloser Selbstüberschätzung und "fehlender Wirklichkeitsbindung" (S. 123) bei Beuys. Er kommt zu dem Schluss, dass "Beuys die eigenen Erinnerungen als Grundlage für seine nicht kritisch reflektierten späteren Urteile" (S. 39) nimmt. Das Schlimme daran ist, dass durch seine Autorität als Künstler seine abstrusen Behauptungen von vielen Menschen als historisch belegte Tatsachen wahrgenommen werden können.

Sendungsbewusstsein und "Volksseele"

Beuys drückte sich teilweise äußerst grob und direkt aus. Gleichzeitig im Kontrast hierzu ließ er NS-Verbrechen in nebulösen, unklaren Umschreibungen verschwinden. Er hob "die Genialität dieser Sprache, die wir sprechen" (S. 111), hervor und betonte sendungsbewusst, dass das deutsche Volk eine ganz besondere Aufgabe in dieser Welt habe.

Manheim weist auf die ausdrückliche Bezugnahme Beuysʼ auf den esoterischen Philosophen Rudolf Steiner und seine Verwendung des Begriffs einer angeblichen "Volksseele" im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie hin. Er kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass Beuys "nahezu alles, was er an Diagnosen und Perspektiven von sich gab, aus den Theorien von Rudolf Steiner" (S. 117) schöpfte und kritische zeithistorische Quellen hierzu "offensichtlich nie ernsthaft zur Kenntnis genommen" hat. In dieser Hinsicht fand bei ihm seit den 1950er-Jahren keine inhaltliche Weiterentwicklung mehr statt. Das hinderte Beuys aber nicht, auf der documenta in den 1970er-Jahren seine problematischen Auffassungen in öffentlichen Gesprächen kundzutun.

Ein Aspekt fehlt mir allerdings in der sehr gelungenen Darstellung Manheims: Die äußerst kritikwürdigen Aussagen Rudolf Steiners zum Judentum und Antisemitismus. Auf einem Höhepunkt der antisemitischen Diskriminierung und Hetze in Deutschland schreibt er 1897 tatsächlich: "Ich halte Antisemiten für ungefährliche Leute. Die Besten unter ihnen sind wie die Kinder" (1). Steiner streitet sogar dem Judentum die Existenzberechtigung ab, nachdem es für die ChristInnen "Jesus" hervorgebracht habe: "Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler in der Weltgeschichte" (2).

"Wir selbst", Nr. 1, 1982Der Buchautor warnt in seinem Buch vor einer ideologischen Vereinnahmung Beuysʼ durch rechte und rechtsradikale Kräfte. Die nationalrevolutionäre Zeitung "Wir selbst", Organ der Vorgängerbewegung der faschistischen Identitären, präsentierte Beuys zu seinen Lebzeiten groß auf der Titelseite (3) als Vorbild. Manheim benennt deutlich und präzise die zahllosen Fehleinschätzungen von Beuys, bleibt aber objektiv und lässt sich nicht zu überzogenen Pauschalurteilen hinsichtlich seines künstlerischen Gesamtwerkes hinreißen.

Ron Manheim: Beim Wort genommen. Joseph Beuys und der Nationalsozialismus, Neofelis Verlag, Berlin 2021, 144 Seiten, 14,00 Euro, ISBN: 978-3-95808-344-8

 

 

Anmerkungen:

(1) Zitiert nach "Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart", Heft 16–17, 1996, S. 153

(2) Zitiert nach Ekkehard W. Stegemann, "Antijüdische Stereotypen in der anthroposophischen Tradition", in: "Donnerstagshefte" (Alte Synagoge Essen), Heft 3, März 2000, S. 33

(3) "Wir selbst", Ausgabe Nr. 1, 1982

 

Infos vom Verlag zum Buch:

https://neofelis-verlag.de/verlagsprogramm/wissenschaft/kunst-fotografie/1034/beim-wort-genommen

 

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Halbjahreszeitschrift "Jalta" im Neofelis Verlag, von mir besprochen:

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"Der Kibbuz: Zwei Realitäten. Zwischen libertärer Utopie und Unterdrückung nach außen".

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