Aus:"Graswurzelrevolution" Beilage "Libertäre Buchseiten" Nr. 478, April 2023

Camus: Weisheit ohne Schaumlöffel

Das hier besprochene neue Buch von Holger Vanicek, dem Vorsitzenden der Camus-Gesellschaft, ist nach "Ursprung der Revolte" (1998) und "Ich revoltiere, also sind wir" (2009) inzwischen das dritte, das im Verlag Graswurzelrevolution über den Literaturnobelpreisträger Albert Camus (1913 – 1960) erschienen ist.

Der Titel "Die Zerrissenheit. Albert Camus´ Tanz unter dem Schwert" irritiert vielleicht auf den ersten Blick. Doch beim Lesen des Buches wird klarer, dass er zutreffend ist. Der undogmatische Camus hinterfragte in seinen Romanen, Erzählungen und Artikeln das festgefügte Weltbild vieler Menschen, indem er bisher wenig beachtete mehrdeutige Aspekte hervorkehrte und komplexe Vorgänge bestimmter Phänomene berücksichtigte.

Holger Vanicek: „Die Zerrissenheit. Albert Camus’ Tanz unter dem Schwert“, Die Vorfahren seines Vaters hatten ihre Wurzeln im Elsass, diejenigen der Mutter in Spanien. Bereits in dritter Generation lebten sie in der französischen Kolonie Algerien. Der Algerienfranzose Camus wuchs in einem Land auf, in dem Araber, Franzosen, Berber, Tuareg und etliche andere Volksgruppen und vielfältige Religionsgemeinschaften zuhause waren. Wie seine Eltern, lebten die meisten der 1,2 Millionen Algerienfranzosen in einfachen Verhältnissen. Nach verschiedenen Gelegenheitsjobs konnte Camus als Journalist ab 1938 für eine französische Tageszeitung Gerichtsreportagen schreiben und reiste für die Berichterstattung ebenfalls in die Kabylei, wo unter den Berbern große Armut herrschte.

Vanicek betont, dass Camus den französischen Kolonialismus und die soziale Ungerechtigkeit in vielen Artikeln anprangerte. Damit korrigiert er KritikerInnen von Camus, die ihm später zu Unrecht vorgeworfen haben, dass er dieser Ungerechtigkeit indifferent gegenübergestanden haben soll. Ganz im Gegenteil kam gerade in seinen Reportagen sein ausgeprägtes Streben nach Gerechtigkeit zum Ausdruck, das sein ganzes Leben bestimmte.

Als Camus später in Frankreich im Kampf gegen den Faschismus aus dem Untergrund heraus die Leitung der libertären Zeitung "Combat" übernahm, wurde die Lage für ihn in mehrfacher Hinsicht schwierig. Einerseits durch die allgegenwärtige Bedrohung durch die deutschen Besatzer. Hinzu kam seine Lungenkrankheit, die ihn zwang, sich längere Zeit in dem abgelegenen Central Massif aufzuhalten, wo sich mehrere Tausend Juden und Jüdinnen verstecken konnten. Spezifische Namen und Charaktere dieser protestantisch geprägten Gegend tauchen später als Figuren in seinem Roman "Die Pest" auf.

Bei der Frage, wie der Kampf gegen den Faschismus geführt werden soll, war der Pazifist Camus in der Tat "hin und her gerissen" (S. 141), schreibt Vanicek. Im Angesicht der allgegenwärtigen Bedrohung und des Holocausts revidierte er in diesem Fall seine absolute Haltung, forderte jedoch eine "unbedingte Gewaltvermeidung" (S. 145) der WiderstandskämpferInnen. Mit dem in diesem konkreten Fall nur bedingten Pazifismus weicht Camus dem Zwiespalt nicht aus und Vanicek argumentiert, dass in dieser Zerrissenheit das Leben keine überzeugenden Lösungsansätze bietet. Es gibt keinen anderen dritten, sauberen Weg. Eindeutigkeiten lassen sich nicht immer erzwingen. Notwendig ist aber nach Camus ein kontinuierlicher Prozess des Abwägens und des Zweifelns, um durch Vernunft gesteuerte Entscheidungen fällen zu können. Holger Vanicek betont: "Camus aber weicht nicht aus, immer wieder zielt er auf jenes Gefühl der Zerrissenheit ab, weil es als aufrichtiges Grundgefühl des Einzelnen Ausgangspunkt jeden Handelns sein kann" (S. 195).

Exemplarisch wird das Dilemma von Vanicek am Theaterstück "Die Gerechten" analysiert, ob bei einem Bombenattentat auf einen Despoten unschuldige Opfer in Kauf genommen werden sollten oder nicht. Im Gegensatz zu Jean-Paul Sartre besteht Camus darauf, dass die Grundrechte auf Freiheit und Unversehrtheit Einzelner nicht zugunsten von abstrakten Ideen oder einer Gruppe geopfert werden dürfen.

Als sich nach 1945 in Algerien die antikolonialen Kämpfe gegen die französische Besatzung intensivierten, saß Camus gleich in mehrfacher Sicht zwischen den Stühlen. Er nahm eindeutig gegen die französische Unterdrückung Stellung, sah aber auch, dass inzwischen ein Teil der Algerienfranzosen seit Generationen in Algerien ihre Heimat hatte. Von den Einen wurde er als französischer Kolonialist angesehen, für die Anderen stand er auf Seiten der algerischen Aufständischen.

Camus-Kongress in Wuppertal 2010 „Camus lebt!“ zum 50. Todestag des AutorsAuch in der weiteren Betrachtung zeigt sich, dass hier nicht Camus selbst "zerrissen" war, sondern wie die politischen Akteure in gegensätzliche Lager gespalten waren. Die FLN (Front de Libération Nationale) kämpfte mit den Mitteln der militärischen Gewalt und mit Attentaten. Auf der anderen Seite gab es die weitaus gewaltärmere Bewegung Mouvement national algérien (MNA), die man nach ihrem Anführer Messali Hadj als Messalisten (1) bezeichnete. Sie wurden von der FLN als Konkurrenten brutal bekämpft und letztendlich ausgeschaltet. Während ein Großteil der Linken diese Gewaltakte unberührt ließ, protestierte Camus energisch und wurde durch seine unabhängige, differenzierte Sicht und seine Parteinahme für die gewaltfreie Bewegung zu einem Widersacher des autoritär-militaristischen Flügels der Linken.

Dieser Antagonismus zwischen gewaltbereiter Machtausübung auf der einen Seite und libertärer Gewaltablehnung wird nicht nur in den Essays "Der Mensch in der Revolte", sondern auch in den Theaterstücken "Die Gerechten" und "Caligulla", sowie in den Romanen "Der Fremde" und "Die Pest" zum Ausdruck gebracht. Die dort auftretenden Figuren und ihre Beziehungen untereinander werden von Vanicek en détail ausführlich in ihren inneren und äußeren Zwiespalten interpretiert und können zu Beginn des Buches LeserInnen, die mit dem Werk von Camus nicht so vertraut sind, überfordern, so dass ich ihnen empfehle, zunächst mit dem sechsten Kapitel "Die Zerreißprobe des Libertären Camus" als Einführung zu beginnen.

Weitere Themen des Buches sind die Beziehungen Camus zu den verschiedenen Orten, an denen er sich aufgehalten hat und die in seinen Werken eine besondere Rolle spielen: die Abgeschiedenheit der algerischen Wüste, das nebelige Amsterdam oder das intellektuell pulsierende Paris. Da Camus in einem nichtreligiösen Elternhaus aufgewachsen ist, musste er sich nicht verbissen an einem tradierten Gottesbegriff aus seiner Vergangenheit abarbeiten, sondern konnte mit einer unverkrampften Leichtigkeit die Idee entwickeln, dass Gott "unnötig" (S.98) ist.

Albert Camus Roman "Die Pest" ist in den letzten Jahren während der Corona-Pandemie von einer breiten Öffentlichkeit als Allegorie für Corona (2) neu rezipiert worden. Holger Vanicek zeigt in seinem Buch, dass darüber hinaus noch viel mehr Weisheiten ohne Absolutheitsanspruch in den Schriften von Camus zu entdecken sind.

Anmerkungen:

1) Brother John: Die Besiegten und Vergessenen des Algerienkrieges. Messali Hadj (1898-1974) und die "Messalisten" https://www.graswurzel.net/gwr/2005/02/die-besiegten-und-vergessenen-des-algerienkrieges/

2) Lou Marin: "Ein Déjà-vu-Erlebnis", "Hintergrund" 1/2020, Seite 61

https://www.hintergrund.de/feuilleton/ein-deja-vu-erlebnis/?highlight=lou%20marin

 

Holger Vanicek: „Die Zerrissenheit. Albert Camus’ Tanz unter dem Schwert“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2022, 220 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-939045-49-6

 

Buchvorstellung auf der Verlagshomepage:

https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/die-zerrissenheit/

Brigitte Sändig (Hg.) „Ich revoltiere, also sind wir“. Nach dem Mauerfall: Diskussion um Albert Camus' "Der Mensch in der Revolte"Zweites, lieferbares Buch über Camus aus dem Verlag Graswurzelrevolution:

Brigitte Sändig (Hg.) "Ich revoltiere, also sind wir". Nach dem Mauerfall: Diskussion um Albert Camus' "Der Mensch in der Revolte"

https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/ich-revoltiere-also-sind-wir/

Drittes, leider nicht mehr lieferbares Buch über Camus aus dem Verlag Graswurzelrevolution:

Lou Marin: "Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus"

https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/ursprung-der-revolte/

 

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Albert Camus-Gesellschaft in der BRD:

http://wp.albert-camus-gesellschaft.org/

Lexikon der Anarchie im DadaWeb:

http://www.dadaweb.de/index.php?title=Camus,_Albert

Lou Marin: „Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus“"Albert Camus, Anarchosyndikalist" von Johann Bauer in "Graswurzelrevolution" Nr. 284, Dezember 2013:

https://www.graswurzel.net/gwr/2013/12/albert-camus-anarchosyndikalist/

Mit Kritik (in einer Fussnote!) an heutiger Camus-Herabwürdigung: "Leider hat Sabine Kebir in einem "Kulturkommentar" des "Freitag" (7.11.2013) dem arrogant-herablassenden Ton ihre Stimme geliehen: "100 Jahre Camus: die Delikatessen der Popularphilosophie" (der Titel sagt schon alles, da schlägt sich die Ecole Normale Superieure auf die Schenkel und feiert ihre feinen Unterschiede). Sie referiert ihn dann so: "Organisierter Widerstand sollte sich auf anarcho-syndikalistische Gewerkschaften beschränken." Will sagen: Camus kam über ein bloß gewerkschaftliches Bewusstsein nicht hinaus - und die "Eingeweihten" wissen sofort was da fehlte: Die Partei. In der wirklichen Welt aber liegt Beschränkung und Beschränktheit eher bei den bewaffneten Parteien, die gerade wieder einmal einen "Frühling" in eine Kältestarre versetzen. Business as usual".

Unverzichtbar:

Camus´ Artikel in anarchistischen Zeitschriften mit umfangreicher Kommentierung durch Lou Marin: "Albert Camus: Libertäre Schriften (1948-1960)":

https://shop.laika-verlag.de/Albert-Camus-Libertaere-Schriften-1948-1960/LV-THA-028

Camus-Kongress in Wuppertal 2010 "Camus lebt!" zum 50. Todestag des Autors:

http://www.camus-lebt.de/#downloads

Lou Marins Einleitungsreferat auf diesem Kongress: "Camus und seine libertäre Kritik der Gewalt"

http://www.camus-lebt.de/pdf/Marin_Camus.pdf