Aus: Schwarzer Faden, Nr. 9, 4/1982
Rudolf Rocker. Leben und Werk
Die Beschäftigung mit historischen Themen angesichts der vielfältigen Bedrohungen unserer Lebensgrundlagen halte ich gerade bei den in dieser Hinsicht besonders vorbelasteten Anarchisten für besonders problematisch, da sie allzuoft zur Abwendung von Gegenwartsfragen führt und ihre Unfähigkeit verstärkt, in den heute stattfindenden Auseinandersetzungen konstruktive freiheitliche Perspektiven aufzuzueigen.
Bei der Biographie Rudolf Rockers von Peter Wienand habe ich allerdings diese Befürchtung nicht. Zum Einen gibt Wienand dem Leser einen hervorragend kommentierten Abriss der Weltpolitik der letzten 100 Jahre aus anarchistischer Sicht, den man woanders selten in dieser Klarheit und Genauigkeit findet. Zum Anderen gestattet die Biographie einen bisher in diesem Umfang unbekannt gebliebenen Blick hinter die Kulissen der so kleinen Welt der Anarchisten mit ihren grassierenden persönlichen Animositäten und ihrem Sektierertum. Für die Glanzpunkte anarchistischer Aktivitäten - die es genauso gab - benennt Wienand die Voraussetzungen, die zu ihnen geführt haben und dies macht das Buch für die Zukunft so lesenswert.
Der Biograph verschweigt seine wohlwollende Haltung gegenüber Rocker nicht. Beim Lesen bekommt man fast den Eindruck, daß er wie ein unsichtbarer Begleiter in die Haut von Rocker geschlüpft ist. Um in schwierigen Situationen die bestehenden Vor- und Nachteile einer bestimmten Handlungsweise wie im Zwiegespräch gegeneinander abzuwägen.
Rudolf Rocker wurde 1873 geboren und verbrachte seine Jugend in dem damals recht weltoffenen und liberalen Mainz. Innerhalb der SPD gehörte er der Opposition der "Jungen" an, bis er 1890 nach schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen ausgeschlossen wurde. Schon während dieser Zeit mit anarchistischen Gedankengängen vertraut geworden, entfaltete er in Mainz eine rege Propagandatätigkeit, in deren Folge er sich 1892 nach Paris absetzen mußte.
Nach der Ausweisung aus Frankreich 1895 ging er nach England, was für 23 Jahre seine Heimat werden sollte. Dieser von der anarchistischen Geschichtsschreibung wenig beachtete Lebensabschnitt erfährt von Peter Wienand eine ausführliche Würdigung. Rockers hervorragende Rolle als geistiger Vater des deutschen Anarchosyndikalismus nach dem 1. Weltkrieg hätte er gewiß nicht ohne seine Londoner Erfahrungen spielen können.
Nicht nur seine langjährige Freundschaft mit Kropotkin prägte seine Anschauungen, sondern auch seine engen Verbindungen zu den jüdischen Emigranten aus Osteuropa machten ihn mit den sozialistischen Bewegungen in aller Welt bekannt. Kurz vor Beginn des 1. Weltkrieges lebten nahezu 200.000 Juden in London und zwar größtenteils im East End. Den Zustrom der jüdischen Handwerker, Händler und Wirte aus Rußland führt Wienand in der Hauptsache auf zwei Faktoren zurück:
- "Mit dem Bau von Eisenbahnen und Straßen verloren sie ihre klassische ökonomische Funktion in der bis dato noch weitgehend ständischen Gesellschaft; sie waren nun nicht mehr für den Austausch und die Verteilung von Agrar- und Konsumgütern wirklich nötig.“ (S.175)
- "Die jüdische Bevölkerung Rußlands stieg von 1800 bis 1897 von rd. 1.000.000 Köpfen auf etwa das Fünffache, und damit mußten sich immer mehr Menschen die wenigen für Juden offenen Berufssparten teilen." (S. 176)
Wienand zeigt in seiner ausführlichen Schilderung des jüdischen Emigrantenmillieus, wie die vorindustrielle Lebensweise in den Ghettos einen guten Nährboden für die anarchistischen Vorstellungen von kleinen solidarischen Gemeinschaften darstellten und der ausschließlich am lndustrieproletariat orientierte Marxismus nur geringe Anziehungskraft entwickeln konnte.
Rudolf Rocker spielte in dieser Bewegung - obwohl er selbst nicht Jude war - eine führende Rolle. Als brillianter Vortragsredner und Herausgeber der Zeitungen "Arbeiterstimme", "Germinal" und "Das freie Wort" hat er das kulturelle Bewußtsein, den moralischen Mut und die Kampfbereitschaft der jüdischen Bevölkerung gestärkt. Mit dem aufsehenerregenden Sympathiestreik der jüdischen Schneider für die englischen Kollegen wurde ein großer Durchbruch erreicht und der unablässige Organisator Rocker wurde, wie Wienand zitiert, als "Architekt des Sieges" gefeiert.
Als Rocker 1919 nach Deutschland einreisen darf, mischt er sich gleich an der entscheidenden Stelle in die politische Auseinandersetzung ein: Auf der "Reichskonferenz der deutschen Rüstungsarbeiter" hält er vor 300 Vertretern aller Rüstungsbetriebe die am meisten beachtete Rede "Die Waffen nieder! Die Hämmer nieder!", in der er die Verantwortlichkeit der Arbeiter für die Produkte, die sie herstellen, aufzeigt und sie auffordert, keine Waffen mehr zu produzieren. Wienand schreibt, daß diese Broschüre mit einer Auflage von über 100.000 Exemplaren die weiteste Verbreitung von allen Schriften Rockers gefunden hat. - Sogar die Zeitung "Antimilitarismus Information" hat es sich im Jahre 1975 nicht nehmen lassen, diese Rede auf 12 Seiten abzudrucken.
Die von Rocker ebenfalls 1919 verfasste Prinzipienerklärung des Syndikalismus bildete die Arbeitsgrundlage der Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD), an deren Entwicklung er regen Anteil hatte. Obwohl Rocker sich sehr um die Verschmelzung der anarchistischen Weltanschauung mit der praktischen Organisationsform des syndikalistischen Gewerkschaftskonzepts bemühte, wurde die FAUD nach einer kurzen Zeit des Aufschwungs immer bedeutungsloser.
Einen wichtigen Grund für den Niedergang des Anarchismus sieht Wienand in Übereinstimmung mit Rocker in der lähmenden Selbstbeobachtung der Anhänger, die oft darin gipfelte, daß man mit Haken und Ösen gegeneinanderarbeitete - ein Zustand, an dem sich heute wenig geändert hat. Unerbittlich geißelte Rocker jenes esoterische Kränzchendasein, daß seine Erfüllung schon allein darin fand, denjenigen Genossen, die dem Anarchismus eine zeitgemäße Form geben wollten, mit krankhaftem Mißtrauen zu begegnen.
Die Anhänger der angeblichen Reinheit des anarchistischen Prinzips konnten mit der Skepsis Rockers an den "ewigen Wahrheiten" nicht viel anfangen, weil sie zu sehr an ihrem Selbstverständnis rüttelt, wenn er sagt: "lch bin Anarchist, nicht weil ich an ein bestimmtes Endziel glaube, sondern gerade, weil ich nicht daran glaube, weil ich vielmehr der Überzeugung bin, daß nur die Freiheit zu immer weiteren Erkenntnissen und sozialen Lebensformen führen kann, während jeder Absolutismus des Denkens nur neue Dogmen schafft und uns neue Ketten anlegt. Darin liegt die Ursache jeder Tyrannei."
Sein 1933 fertiggestelltes, aber erst 1949 in Deutschland gedrucktes Hauptwerk "Nationalismus und Kultur" stellt eine umfassende Kritik des Staates und des auf ihn gründenden Nationalismus dar. In seiner 1947 geschriebenen Broschüre "Zur Betrachtung der Lage in Deutschland. Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung" ging Rocker auf die veränderte Situation Nachkriegsdeutschlands ein, indem er die Revision des alten anarchosyndikalistischen Konzeptes zugunsten einer konstruktiven Betätigung auf Gemeindeebene forderte. Die hohen praktischen und theoretischen Anstrengungen zur Durchführung dieses Vorhabens konnten von der durch den Faschismus stark dezimierten anarchistischen Anhängerschaft nicht geleistet werden.
Erst heute ergreifen verschiedene Basisbewegungen wieder die Initiative im Sinne Rudolf Rockers "Betrachtungen...". Und wenn es uns wiederum schwerfällt unsere Vorstellungen in der passenden Art und Weise einzubringen, so kann das Studium dieser Biographie sicherlich nicht unwesentlich dazu beitragen, altbekannte Fehler zu erkennen und Abhilfe zu schaffen.
Peter Wienand: „Der 'geborene' Rebell Rudolf Rocker“, 479 Seiten, 49,80 DM. Karin Kramer Verlag. 1 Berlin 44, Postfach 106.
Anmerkung
In der ersten Ausgabe von "Schwarzer Faden" (Nr. 0, 1980) habe ich in meinem Beitrag "Wahlboykott - der Weisheit letzter Schluss?" an Rudolf Rockers Kritik am anarchistischen Wahlboykott auf Gemeindeebene hingewiesen und mir zu Eigen gemacht:
https://www.machtvonunten.de/parteien-und-parlament/88-wahlboykott-der-weisheit-letzter-schluss.html
In meinem längeren Artikel "Nationalrevolutionäre aus anarchistischer Sicht" in "Schwarzer Faden" (Nr. 9, 1982) habe ich in Kapitel drei Rudolf Rockers Deutung und Einschätzung des Nationalismus ausführlicher zitiert:
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