Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 378, April 2013

Inflation der Worte über Schwundgeld

Die Inflation der Worte über Silvio Gesells Schwundgeldtheorie in Zeitschriften und Traktaten beachtete Horst in den letzten beiden Jahrzehnten nur noch nebenbei und entsorgte das sporadisch anfallende Papier beim Kartoffeln holen im Keller in eine große Pappkiste. Klappe auf, Silvio rein, Gesell war verschwunden wie sein Schwundgeld. Doch zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstagsjubiläum kam er zu Horst in Gestalt eines Konkret-Buches von Peter Bierl zurück.

Konkret texte 57Das Understatement von Herausgeber Friedrich Burschel im Vorwort, Bierls Buch stehe am Anfang und nicht am Ende einer kritischen Gesell-Aufarbeitung, wirkte auf Horst sehr angenehm. Gleichwohl beunruhigte das Buch ihn aber auch wegen einiger zurückliegender Ereignisse. Deswegen bereitete sich Horst auf die absehbare harte Prüfung vor, indem er sich mit Hilfe des in sich ruhenden Ragas Bhairava in eine Stimmung versetzte, die Achtsamkeit und Aufnahmebereitschaft für Neues fördert, zusätzlich jedoch genau diejenige entspannte und ausgleichende Wirkung unterstützt, die er bei der Bearbeitung konfliktreicher Fragestellungen dringend benötigte.

Nach Bierl erklärte Silvio Gesell die Zirkulation von Waren und Geld zum maßgeblichen Wesen und Inhalt der Ökonomie. Während Gesell zufolge in herkömmlichen Geldsystemen die "raffgierigen" NutzniesserInnen von verzinstem Kapital ohne eigene Arbeitsleistung reich werden, verliert das Schwundgeld durch einen negativen Zins langsam an Wert, wird deswegen schneller ausgegeben und kurbelt dewegen die Wirtschaft an.

Im Gegensatz zu dieser Vorstellung betont Bierl mit Marx, dass das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis begründet, das nicht nur die Geldzirkulation, sondern auch den Besitz der Produktionsmittel und die Konsumtion umfasst.

Das Streben der UnternehmerInnen nach möglichst hohem Gewinn wird hier als besonders charakteristisch angesehen. Es herrscht eine Klasse über die Andere. Die mit dieser kapitalistischen Herrschaft einhergehende vielschichtige und facettenreiche Unterdrückung wird demnach von der gesellschen Geldtheorie nicht berücksichtigt. Auch für Horst ist klar: der in einer Fabrik für einen geringen Lohn knechtende Arbeiter, die von einem sexistischen Chef unterdrückte Sekretärin und der von einem autoritären Meister drangsalierte Lehrling haben ganz andere Probleme als die Geldumlaufgeschwindigkeit.

Bierls stringent marxistische Argumentation durchzieht wie der ständige Grundton eines indischen Ragas weite Teile des Buches. Aber das machte Horst nichts, denn er wusste, dass richtige Erkenntnisse nicht dadurch falsch sind, wenn sie von jemandem ausgesprochen werden, mit dem er in anderen Fragen vielleicht anderer Meinung ist. Horst freute sich über die erneute Erkenntnisauffrischung und zündete nach dieser anstrengenden Ökonomiephase im Buch ein Räucherstäbchen zur Entspannung an.

Tauschringe und Regionalgeld

Horst ist, wie fast alle anderen AnarchistInnen auch, Kommuneexperimenten und Formen gemeinschaftlichen, solidarischen Wirtschaftens vom Grundsatz her sehr zugetan. Deswegen interessiert er sich dafür, was Bierl zu diesem Thema in Verbindung mit der Freiwirtschaft zu sagen hat. Denn in Tauschringen, in denen die Mitglieder untereinander Waren und Dienstleistungen miteinander verrechnen, betätigen sich viele GesellanhängerInnen. Gründlich analysiert Bierl Dimension und hervorstechende Merkmale dieser Aktivitäten.

WörgelDemnach existierten 2002 in der BRD etwa 350 Tauschringe mit 25.000 Mitgliedern, 2009 nur noch etwa 200 (S. 30). Der durchschnittliche Monatsumsatz betrug aufgrund des Mangels an sinnvollen Angeboten im Durchschnitt nur 20 Euro. Bierl berichtet von dem Problem, dass Bauern sich weigerten, für ihre landwirtschaftlichen Produkte mit Massagen und Reiki "bezahlt" zu werden. Und noch gravierender: "Wer keine Arbeit, keine Dienstleistungen oder Güter einbringen kann – etwa Kranke, Behinderte und Alte - , ist prinzipiell ausgeschlossen. (...) Die Tauschringe der Gesellianer haben nichts mit Nachbarschaftshilfe zu tun. Sie funktionieren weder nach dem Prinzip der ‚gegenseitigen Hilfe’, wie es der Anarchist Peter Kropotkin (1842 – 1921) verfochten hat, noch nach dem von Marx formulierten kommunistischen Prinzip ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen’" (S. 31).

Ein ähnliches Phänomen benannte Bierl auch bei historischen und aktuellen Regionalgeldprojekten, in denen das Geld in bestimmten Zeitabständen an Wert verliert. Bei dem Schwundgeld im vielzitierten österreichischen "Wunder von Wörgl" hatten im Jahr 1930 durch den Wertverlust vor allem ärmere BürgerInnen mit weniger Geld zu leiden (S. 45). Darüberhinaus bekamen ArbeiterInnen von den beteiligten ArbeitgeberInnen den Lohn teilweise in Schwundgeld ausgezahlt und konnten deswegen über ihren Lohn nicht mehr frei verfügen. Bierl vergleicht diesen Zwang zur Nutzung eines bestimmten Geldsystems mit den heutigen diskriminierenden Lebensmittelgutscheinen bei Asylsuchenden in der BRD.

In Wörgl wurden allerdings immer noch über 93 Prozent in herkömmlichen Schillingen umgesetzt; die "Alternative" war also eher marginal (S. 44). Bierl stutzt dieses vielfach hochgejubelte "Wunder" und "welthistorische Ereignis" auf seine reale Dimension zurück. "Gut, das uns Bierl auf diese ernüchternde Problemlage hinweist, dann machen wir vielleicht in Zukunft weniger Fehler", dachte Horst optimistisch.

Bierdeckel für den Stammtisch ...Als weiteres Beispiel führte Bierl Erfahrungen in Argentinien an, die in dem Buch zu einem kleinen Nebenschwerpunkt wurden, da Gesell Deutsch-Argentinier war. In der großen Wirtschaftskrise im Jahre 2002 beteiligten sich aus existenzieller Not heraus etwa 10 Millionen Menschen an Tauschringen, um sich über Wasser zu halten. Aber nur ein kleiner Teil besetzte Fabriken, Büros und Land. Um Zugang zu den Tauschmärkten zu erhalten, musste Eintrittsgeld bezahlt werden. Wer weder Waren und Dienstleistungen anbieten konnte, war ausgeschlossen. Soziale Absicherungen waren in diesem System nicht vorgesehen.

Als bei dem ebenfalls eingeführten Schwundgeld, den "Creditos", 260 Millionen Scheine gefälscht in Umlauf gebracht wurden, brach das System zusammen. Tauschbörsen und Schwundgeld setzten nicht den Kapitalismus außer Kraft oder förderten solidarische Verhaltensweisen, sondern verstärkten im Gegenteil Egoismus und individuelles Durchwursteln. Statt sich wertloses rostendes Geld aufschwatzen zu lassen, hätten die Menschen nach Bierls Ansicht besser Fabriken und Land besetzen und kollektiv bewirtschaften sollen.

Wer ProduzentInnenen vor Ort stärken, Transportkosten sparen und einen regionalen Wirtschaftskreislauf fördern will, benötige hierfür keine "oberflächliche Spielereien" mit "lokalpatriotischem Geld", sondern sollte Genossenschaften und Kooperativen aufbauen. Bierl weist darauf hin, dass die heutigen Regionalgeldsysteme in der BRD fast alle in reicheren, mittelständisch geprägten Gegenden existieren. "Aktuell dürfte sich die umlaufende Summe aller 24 Regionalgeldsysteme zwischen einer Million und 1,2 Millionen Euro bewegen. Das ist angesichts des organisatorischen Aufwands und des Propagandagetöses bescheiden. Zu berücksichtigen ist, daß daran der Chiemgauer einen Anteil von über 50 Prozent und der Roland von rund 28 Prozent haben, was die geringe Bedeutung der übrigen 22 Systeme anzeigt" (S. 36).

Frühsozialisten und Proudhon

Das Lesen des Kapitels "Zur Geschichte der verkürzten Kapitalismuskritik: Frühsozialisten, Sozial-, Boden- und Geldreformer" unterlegte Horst in weiser Voraussicht musikalisch mit einer ins Unendliche ausufernden Matra-Rezitation.

Denn leider qualifiziert Bierl in seinem Buch die Reformbewegungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts im überlegenen Gestus von oben herab ab, ohne zuzugestehen, dass es sich hierbei um von ihrer Zeit geprägte Experimente in einer schwierigen ökonomischen Umbruchphase handelte.

Es ist natürlich ein Leichtes, Babeuf, Fourier und Owen über 200 Jahre später mit dem Wissen von heute vorzuwerfen, dass sie beispielsweise den Zins losgelöst vom Produktionsprozess als bloßen Wucher und Erpressung betrachteten. Zum damaligen Zeitpunkt war der industriell geprägte Kapitalismus noch nicht voll ausgebildet, während Bierls großer Meister Marx seine ökonomischen Erkenntnisse fast 50 Jahre später nach fortgeschrittener Entwicklung viel leichter hervorbringen konnte.

GesellEin gefundenes Fressen war offensichtlich für Bierl Gesells Bezugnahme auf Proudhon (1809 – 1865), der von ihm nicht nur als Initiatiator der Tauschbank, sondern auch als Mitbegründer des Anarchismus bezeichnet wird. - "Wer ist denn Proudhon? Nach dem kräht in den aktuellen Diskussionen der anarchistischen Szene kein Hahn mehr!" ereiferte sich Horst ärgerlich. "Brauchst du vielleicht jetzt Baldrian?" fragte besorgt Saraswati, die indische Göttin der Weisheit, die auf Horsts Schreibtisch gerade mit ihrer Sitar das Mantra begleitete. Aber Horst wehrte ab, da musste er durch.

Bierl schreibt: "In der Regel wird Proudhon von Anarchisten unkritisch als Begründer ihrer Bewegung gewürdigt. Lediglich Bookchin hat die Frage gestellt, ob man Proudhon überhaupt als Anarchisten bezeichnen könne, und dessen Haltung als kompatibel mit reaktionären bis faschistischen Strömungen kritisiert" (S. 59).

In der Fußnote zu seiner Aussage nennt Bierl als aktuellsten Beleg das Buch von Horst Stowasser "Freiheit Pur" von 1995. Dort beschrieb Stowasser zwar Proudhons frühe Tauschbankexperimente und erwähnte anerkennend sein Buch "Was ist Eigentum". Aber Stowasser sagte exakt auf denjenigen Seiten, die Bierl als "Beweis" für seine These hervorhebt, etwas anderes über Proudhon: "Er war einer der kühnsten und bizarrsten Denker seines Jahrhunderts, aber zugleich auch von solcher Widersprüchlichkeit, polemischer Übertreibung und Wechselhaftigkeit der Ansichten, daß es bis heute selbst seinen Anhängern schwerfällt, ihm immer zu folgen. Innigste Freiheitsliebe stehen bei Proudhon unvermittelt neben tumben, reaktionären Anschauungen, scharfsinnige Analysen von bestechender Klarheit beißen sich mit vagen und unsystematischen Spekulationen" (S. 180). – Sieht so eine unkritische Würdigung aus?

Sozialdarwinismus bei Gesell

Einen sehr breiten Raum nimmt bei Bierl die Darstellung von Gesells zeitgenössischem Umfeld und Resonanzboden ein. Lebens- und Bodenreformer, Kolonialvereine, Rassenhygieniker, sowie nationalistische Verbände mit ihren unterschiedlichen, sich mal ergänzenden, mal sich widersprechenden ideologischen Versatzstücken und Bestrebungen bildeten in ihrem Zusammenwirken eine abscheulich menschenfeindliche Symbiose, die jedem humanistisch denkenden Menschen das Gruseln lehren müsste.

"Der Dritte Weg"Horst fiel positiv auf, dass Bierl in seinem Buch diese vielfältige rechte Szene sehr differenziert analysiert. Gesells Ansichten seien durchaus offen für eine antisemitische Auslegung und bestärke antisemitische Steriotype, er kooperierte intensiv mit übelsten Antisemiten. Doch Bierl stellt ebenfalls klar: "Der verkürzten Kapitalismuskritik und der Personalisierung in Gestalt des Geldbesitzers folgt in seinen Schriften nicht dessen Identifikation als Jude" (S. 151).

Akribisch genau legt Bierl die sozialdarwinistisch-eugenetischen Vorstellungen bei Gesell offen. Das Hauptwerk "Die natürliche Wirtschaftsordnung" ist seiner Meinung nach nicht etwa ein Plädeuyer für umweltfreundliches Wirtschaften, sondern eine verschroben-makkabre Hymne auf Eigennutz und brutalstmögliche Rücksichtslosigkeit im Kampf ums Dasein. Die von Bierl angeführten Zitate atmen einen so unglaublich abstoßenden inhumanen Geist, dass Horst vorsichtshalber in seiner großen Gesellkiste aus dem Keller etliche Zitate kontrollierte – und an der Zitierweise nichts zu beanstanden hatte.

Freiwirtschaft unter der Erde. Aber wo sind die Rechten?"Du bist ja ganz schön mißtrauisch!" bemerkte Saraswati in vorwurfsvollen Unterton. – "Habe meine Gründe hierfür" erwiderte Horst etwas patzig und lies sich anschliessend von Bierl in den Gesellschen Horror-Trip-Strudel von bizarren Menschenzuchtphantasien, Rassenwahn inclusive "Zerschmetterung alles Minderwertigen" (Seite 132) hineinziehen, bis ihm speiübel wurde und der schöne Raga von Saraswati einem bösen Tinnitus in seinem Ohr Platz machte. Die von Bierl zitierte Ausmerze-Raserei Gesells gipfelte in der Ablehnung des "ekelhaften Arztberufes", denn "wie es bei den Tieren des Waldes keine Kranken gibt, so auch dann nicht unter den Menschen" (S. 120).

Horst kann sich nicht vorstellen, dass es in Kenntnis dieser nachlesbaren Textpassagen unter AnarchistInnen noch Einige geben könnte, die immer noch Gesells Ideen anhängen, wo doch sonst in anarchistischen Medien bis in die allerfeinsten Spitzfindigkeiten und Implifikationen Ideen und Meinungen dahingehend auf den Prüfstand gestellt werden, ob sie die Menschenwürde verletzen oder Instrumente der Herrschaft seien. Wird es nach der Lektüre dieses Buches immer noch Einige geben, die Gesells Ausmerze-Phantasien als ein Missverständnis, halb so schlimm oder gar als eine böswillige Fehlinterpretation verharmlosen?

Gesell und Rechtsradikale

Horst wurde nach dieser geballten Ladung zitierter Hasssprache ganz schwindelig und rang nach Luft. Saraswati fragte besorgt "soll ich vielleicht noch ein Mantra zur Entspannung singen?" – Doch nach Mantra-Harmonie war Horst jetzt gar nicht zumute. Er musste seine Aggressionen abbauen und schwang sich auf sein Fahrrad.

Während er langsam wieder Tritt fasste, erinnerte er sich an sein seltsames Praktikum vor 35 Jahren auf einem Biobauernhof bei Gesellianern. An die dort ausgelegte und rezipierte Broschüre "Die Auschwitzlüge", an die rechten Organisationen, die ihre Veranstaltungen dort abhielten. Und an die Stammkundin, dessen Ehemann ein rechtskräftig verurteilter Massenmörder an Juden in Italien war. Den kruden reaktionär-"alternativen" Queerbeet-Mix erlebte er dort ein ganzes Jahr lang aus nächster Nähe mit (1). All diese Erlebnisse kamen jetzt in ihm wieder hoch. Horst konnte aus eigener Erfahrung bestätigen, dass Bierls Kritik an Gesell und sein heutiges Umfeld weder weit hergeholt noch überzogen war. Diese braun-"alternativen" Netzwerke gab und gibt es wirklich!

... und noch einen dritten Weg, diesmal bei den Grünen (1982)Zu Hause rezitierte Horst zu seiner Selbstvergewisserung noch einmal voller Inbrunst das Resumeè von Bierl: "Ihm schwebte eine Weltgesellschaft ohne Staaten und Grenzen vor, ein globaler Manchesterkapitalismus mit Freigeld, Freiland und Freihandel, in dem erbbiologisch hochwertige Männer und Frauen ein Maximum an Kindern zeugen, während die Minderwertigen verschwinden. Diese Hochzucht, das belegen andere Stellen seines Werks, sollte innerhalb einzelner Rassen stattfinden und nicht zu ‚Rassenkreuzungen’ führen. Gesell verknüpfte rassische Stereotype mit extremem Individualismus, radikalem Liberalismus, einer prinzipiell staatsfeindlichen Haltung sowie sozialdarwinistischen Menschenzuchtphantasien ..." (S. 139).

"Jetzt krieg dich aber mal wieder ein" unterbrach Saraswati ziemlich genervt diese furiose Tirade und ermahnte Horst zurück zu mehr Ausgeglichenheit und Gleichmut zurückzufinden. "Ihr Anarchisten seid eine Minderheit in einer Minderheit einer Minderheit. Habt ihr nichts besseres zu tun, als euch mit obskuren Sektierern zu beschäftigen? - Konzentriert euch auf die wichtigsten eigenen Ziele und achtet darauf, dass euch die einfachen Menschen verstehen."

Nach kurzem Nachdenken atmete Horst erleichtert auf und stimmte lächelnd Saraswati zu: "Also gut. Sobald der letzte Gesell-Leserbrief in der GWR gedruckt wurde, verschwinden die obskuren Papiere wieder für zwanzig Jahre in einer Kiste im Kartoffelkeller."

Anmerkung:

1. Siehe: http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html

 

Peter Bierl: "Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapitalismuskritik von Rechts: Der Fall Silvio Gesell". Konkret texte 57, 252 Seiten, 24,80 Euro

 

Nachwort

Diese "ausschweifende" Buchbesprechung hat eine lange Geschichte und geht auch auf von mir Erlebtes und Geschriebenes seit den 70er Jahren zurück. Also der Reihe nach:

Meine ersten Begegnungen mit Gesell-AnhängerInnen 1978, beschrieben in "14 Szenen über Gärtner und Mörder (Zu S. Gesell)":

http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=133:14-szenen-ueber-gaertner-und-moerder&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

Artikel aus dem Jahr 1984: "Silvio Gesell – ‚der Marx der Anarchisten’ - ein Faschist!"

http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=136:silvio-gesell-der-marx-der-anarchisten-ein-faschist-2&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

Folgeartikel aus dem Jahr 1985: "Marktanarchie contra Sozialstaat? Zum anarchistischen Umgang mit zwei falschen Alternativen":

http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=135:marktanarchie-contra-sozialstaat&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

SaraswatiBei einigen Diskussionen mit LeserInnen konnte ich feststellen, dass die von mir in der Buchbesprechung "nebenherlaufende" Figur der hinduistischen Göttin "Saraswati" eine gewisse Verwunderung oder Irritation ausgelöst hat. Doch was ist daran so ungewöhnlich, wenn ein Autor verschiedene Sichtweisen durch verschiedene Figuren anklingen läßt? – Gar nichts.

Zudem verstehe ich den Auftritt Saraswatis ganz unabhängig von der Gesell-Thematik als angenehmen Kontrast zum wildgewordenen bierligen Elefanten (bitte entschuldige diesen Vergleich, lieber Ganesha!) im esoterischen Porzellanladen.

Leserbriefe zu meiner Gesell-Buchbesprechung kamen bei der "Graswurzelrevolution" nicht an, obwohl es aus dem Hintergrund vernehmlich grummelte. Meine Besprechung wurde ausschließlich in der Printausgabe veröffentlicht. Die "üblichen verdächtigen" gesellfreundlichen LeserbriefschreiberInnen hätten das Blatt kaufen (oder sich ausleihen) müssen, um antworten zu können.

Bierls Artikel in Konkret 4/2013 "Elendsselbstverwaltung. Linke Marktwirtschaftsreformer und grüne Anarchisten suchen Holzwege aus der Krise" ist sicherlich keine gute Werbung für sein Gesell-Buch. Denn dort holt er den großen Ballermann aus dem Schrank und schießt mit Schrot auf alles, was sich bewegt. Das hätte er womöglich auch in dem Buch gemacht, aber irgendwas oder irgendwer (Verlag, guter Lektor?) hat ihn offensichtlich daran gehindert, sodass es zu großen Teilen doch recht lesenswert ist.

Den Leserbrief von Thorben Lüth in Konkret 5/2013 zu Bierls Artikel möchte ich an dieser Stelle zustimmend auszugsweise zitieren: "Der Autor wirft auf nur einer Seite eifernd mit Kacke um sich, daß auch ja an so vielen Personen und Organisationen wie möglich en bloc die braunen Kleckse hängen bleiben. Zweifellos sind einige dieser Treffer berechtigt. Bloß: Was nützt es? Namedropping und Gallespeien differenzieren nicht, es handelt sich hier um die Erzeugung einer Stimmung, wild assoziativ, ohne Willen zur Verbesserung."

Nachwort 2

Nur ein paar Probleme beim Regionalgeld werden in dem Artikel "Ein paar Chiemgauer für einen Cappuccino" in "Neues Deutschland" vom 8. Mai 2013 eingestanden, aber wirklich kritisch wird diese "alternative Währung" nicht hinterfragt. In dem Bericht über den Regionalgeldkongress in Traunstein vom 3. bis 5. Mai 2013 klingt es ziemlich naiv, wenn eine Teilnehmerin mit "Regiogeld ist eine einfache Art, etwas für die Region zu tun" zitiert wird. Es reicht außerdem nicht aus, sich auf dem Kongress von ein paar "Rechtsesoterikern" zu distanzieren, um dafür aber Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse sowie Profitstreben als zentrale Eckpfeiler des Kapitalismus weitgehend auszublenden.

Freiwirtschaft mal ganz modern ...Dass diese Regionalwährungen keine ideologiefreien "Laboratorien für einen anderen Umgang mit Geld" sind, weist Prof. Dr. Klaus Müller ein paar Wochen später in dem ND-Artikel vom 22. Juni 2013 "'Rostendes' Geld als Ausweg?" nach. Er schreibt in der Einleitung: "Silvio Gesell war der Namhafteste unter den Dilettanten, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf das komplizierte Feld der Geldtheorie wagten und glaubten, den Kapitalismus von Krisen befreien zu können."

Zur angeblichen Förderung der Region durch Regionalgeld schreibt Müller: "Heimische Waren werden bevorzugt, wenn sie besser sind und nicht wenn sie mit Spezialgeld bezahlt werden können. Außerdem bleibt nie alles Geld dort, wo es ausgegeben wird. Händler und Produzenten beziehen oft einen Teil ihrer Güter, Arbeitsmittel und Rohstoffe von anderswo."

Zur angeblichen Nachfrageankurbelung von "rostendem Geld" schreibt Müller: "Weshalb sollten Investitionsgüter beschafft werden, wenn alles gegen die Investition spricht? Weshalb sollten Konsumgüter nachgefragt werden, wenn man diese nicht braucht? Das wäre organisierte Sinnlosigkeit (...)."

Müllers Fazit lautet: "Letzter Krisengrund ist nicht der Zins, sondern die ungleiche Verteilung des Eigentums, aus der die Ungleichheit der Einkommen und des Vermögens resultiert. Jeder Ärger sucht sich ein Ventil. Frühere Herrschaften hatten den Juden, das 'raffende' Kapital, dem sie die Schuld für ihnen angetanes Unrecht zuwiesen. Heute haben wir den Zins oder den Euro. (...) Der Profit bliebe auch in einer denkbaren zinslosen Wirtschaft das Maß aller Dinge, der Wachstumsmotor Nummer eins. Nicht der Zins als ein Teil des Profits sondern der Profit selbst ist das Problem."

Recht oberflächlich fällt in der aggressiv-rechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" vom 14. Juni 2013 der Artikel "Tanz den Silvio Gesell" über die Sommertagung der "Humanen Wirtschaft" aus. Während in diesem Blatt der rechte Terror und ausländerfeindliche Übergriffe bagatellisiert und letztendlich ideologisch vorbereitet werden, wird auch in diesem Artikel zu allererst ein Horrorgemälde von linksradikalen  Kritikern Gesells ganz dick aufgetragen.

Der zugegebenermaßen unangenehm-martialisch klingende Name der linken Homepage "Infopartisan" kommt da als Stichwortgeber gerade recht. Der JF-Artikel referiert brav die Vorträge der Tagung und berichtet über Atmophärisches auf der Veranstaltung. Allenfalls kommt Detailkritik über das Fehlen detaillierter Belege mancher Thesen auf. Der große Infokasten über die Freiwirtschaftslehre zeigt, worauf es dem Blatt ankommt: Alle möglichen rechten und sonderlichen Speziallehren werden hier wie im Supermarkt angeboten, haben hier ihren Platz und  werden hier zusammengeführt gegen den gemeinsamen allüberall lauernden Feind, den schlimmen linken "Infopartisan"!

Informationen über die Zeitschrift "Junge Freiheit" sind in dem Artikel "Altbekannte 'junge Frechheit'" zu finden:
http://www.machtvonunten.de/nationalisten-rechte-neoliberale.html?view=article&id=131:altbekannte-junge-frechheit&catid=15:nationalisten-rechte-neoliberale

 

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