Aus: "Bauernstimme", Januar 1992
Oskar Maria Graf: Der Lackl vom Land
Mit Bauerngeschichten, Dorfromanen und Biographien beschrieb der Schriftsteller Oskar Maria Graf die Wirklichkeit bäuerlichen Lebens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Ein Erzähler mit großer Kraft
Oskar Maria Graf wurde 1894 als Sohn eines Bäckermeisters und einer Bauerntochter in dem Dorf Berg am Starnberger See geboren. Das Leben auf dem Lande und die harte Arbeit in der Bäckerei prägten Graf von Kindheit an.
Mit 17 Jahren hatte Oskar die Herumkommandiererei in der Bäckerei satt. Sein despotischer Bruder verbot ihm, Bücher zu lesen. Oskar jedoch träumte von der Schriftstellerei und ging nach München. Dort ließ er Visitenkarten drucken, auf denen stand: "Provinzschriftsteller – Spezialität: Ländliche Sachen". Erst nach zahlreichen Misserfolgen wurden eine paar seiner deftigen Geschichten und erotischen Schnurren gedruckt. Von nun an wurde er in der Münchner Gesellschaft als bayrischer Naturbursche und Original herumgereicht.
Als er im Ersten Weltkrieg zum Militär eingezogen werden sollte, stellte er sich dumm und kam vorübergehend in eine Anstalt für Geisteskranke. Da Oskar soeben der ländlichen Enge seines Heimatdorfes entflohen war, interessierten ihn die Ideen der Münchner Künstler, Lebensreformer, Sozialisten und Anarchisten.
Große Teile der Bevölkerung waren von den schrecklichen Ereignissen im Ersten Weltkrieg zermürbt und folgten den Führern des militaristischen Deutschlands nicht mehr. In München wurde 1919 die Räterepublik ausgerufen und nach kurzer Zeit blutig zerschlagen. In seiner 1927 erschienenen Autobiographie "Wir sind Gefangene" berichtete er über seine Erlebnisse in dieser Zeit und schaffte damit international den Durchbruch als Schriftsteller. In den Jahren davor schrieb er einige Dorfromane und Kurzgeschichten, die zunächst auf weniger Resonanz stießen.
Bäuerliche Respektlosigkeit gegenüber Intellektuellen
Urwüchsig und naturverbunden spielt bei ihm das einfache bayrische Volk die Hauptrolle. Graf kommt ohne komplizierte Erzähltechniken aus und lehnte modische Experimente mit literarischen Formen ab. Er erweist sich als sorgfältiger Beobachter des Dorflebens und gesellschaftlicher Ereignisse. Respektlos werden in seinen Geschichten die Autoritäten bloßgestellt. Der reaktionäre Dorflehrer landet beim Fensterln in der Jauchegrube oder kleine Oskar kippt seine Tinte in das Weihwasserbecken des Dorfpfarrers. Grafs Auftritte als trinkfester Provinzler in Lederhosen haben viele dazu verleitet, in ihm nur das "Urvieh aus Bayern" zu sehen. Dies war eine Täuschung. Er liebte die Maskerade. Seine hemdsärmelige bierkrugstemmende Deftigkeit war Ausdruck einer bäuerlichen Respektlosigkeit gegenüber der Welt der Intellektuellen und scheinbar Gebildeten und sollte provozieren!
In seinen 1929 erschienenen "Kalendergeschichten" beschreibt er in einer bildreichen Sprache Begebenheiten, Beobachtungen und Anekdoten von reichen geizigen Bauern und von "Notschnappern". Rebellen wehren sich auf völlig unterschiedliche Weise gegen ihr Schicksal. Mit seinen enormen sozialpsychologischen Kenntnissen vermittelt er ein ungeschöntes Bild aus den ersten Jahren des Freistaats. Stoff war das Gewöhnliche und Alltägliche im Leben der kleinen Leute.
Da war die Arbeit und das Sterben und dazwischen lag, was die Bauern "das bisserl Leben" nannten. Besonders Originale und Sonderlinge hatten es Graf angetan. Im dörflichen Leben waren sie am meisten der sozialen Kontrolle ausgesetzt und mußten mit Sanktionen und Anfeindungen rechnen.
Der bayrische König hatte die elterliche Bäckerei zum Hoflieferanten gemacht und so kam es, daß sich Oskar seit seiner Kindheit für Ludwig II. interessierte. In Grafs Romanen wird immer wieder betont, daß in Bayern der König die eigentliche Respektperson gewesen sei; nicht die Regierung, nicht die Politiker. Allerdings entsteht bei ihm keineswegs eine Ludwig Thoma- oder gar Ganghofer-Welt, in der tüchtige Landsleute von einer gütigen Obrigkeit verwaltet werden, dazu einträchtig die Wälder rauschen ...
Provinzialität als Gegenkraft
Minutiös registriert Graf Veränderungen, die Fremdenverkehr, Inflation und der verstärkt sich herausbildende deutschen Nationalstaat verursachen. Das Alte zerrinnt unwiederbringlich. Übermächtige Ereignisse brechen in die Dörfer ein und bewirken bei den Menschen eine Abwehrhaltung. "Hm, jetzt Krieg. So mitten im Sommer, wo die meiste Arbeit ist?" - Provinzialität erweist sich als Gegenkraft zum zentralistischen und nationalistischen Deutschland. "Früherszeiten hat man das ganze Jahr nie was von einer Regierung gehört und da ist´s auch gegangen. Jetzt auf einmal kommen lauter so neumodische Sachen auf".
In vielen Romanen erweist sich Graf als sorgfältiger Chronist von Familienschicksalen. Politische und ökonomische Umbrüche, die das ursprüngliche Leben in der Provinz verändern, werden geschickt in die Handlung eingeflochten. Die ehemalige Lebendigkeit des Dorfes und die Fülle an originellen Gestalten geht mit der Zeit verloren. Die Geldwirtschaft durchdringt die Landwirtschaft. Menschen werden zunehmend habgieriger und egoistischer.
Antisemitismus und Faschismus
Nachdem 1933 der Faschismus die Macht an sich gerissen hatte, wurden fast alle Werke demokratischer Schriftsteller verbrannt. Natürlich kannten die Nazis Grafs Werk und sein pazifistisches Buch "Wir sind Gefangene". Da er jedoch viele Bauerngeschichten geschrieben hatte, wollten sie ihn als Heimatschriftsteller vereinnahmen. Als Graf dies im Wiener Exil hörte, packte ihn die Wut und er schrieb den weltweit Aufsehen erregenden offenen Brief "Verbrennt auch meine Bücher". So geschah es dann auch. Von 1934 bis 1937 lebte er in Brünn im Exil. Als er dort nicht mehr sicher war, emigrierte er für den Rest seines Lebens nach New York.
Graf beschäftigte sich in seinen Werken oft mit der schleichenden Entwicklung zum Faschismus in Deutschland. Besonders gut ist ihm diese Darstellung in seinem Spießerroman "Anton Sittinger" gelungen. Am Beispiel des Postinspektors Sittinger zeigt er, wie sich der unterschwellig schon lange existierende Nationalismus und Antisemitismus ausgebreitet hat. Wer wissen will, wie Hitler an die Macht kommen konnte, erfährt es in diesem Buch.
Bauerngeschichten und Dorfromane
In seinem großartigen Dorfroman "Unruhe um einen Friedfertigen" hält sich ein zugereister Schuster jahrelang aus allen möglichen Konflikten heraus, um seine jüdische Herkunft zu verbergen und so Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Seine Anpassung und sein Versteckspiel helfen ihm nicht. Eine unerwartete Erbschaft lenkt die Aufmerksamkeit auf ihn. Seine wahre Identität wird entdeckt und der arme Schuster wird von den Nazis getötet. Auch hier zeigt Graf, wie das in Traditionen verwurzelte Volk auf dem Lande in den Strudel machtpolitischer Auseinandersetzungen gerissen wird, sich polarisieren läßt und abstruse Feindbilder entstehen. Am Beispiel des jüdischen Schusters zeigt Graf, daß Anpassung keine Lösung des Problems ist. Wer nicht zum Widerstand fähig ist, wird Opfer.
1940 erscheint mit 900 Seiten Grafs Roman "Das Leben meiner Mutter", mit dem sich der Autor am meisten identifiziert. Eingebettet in ein kulturgeschichtliches Bild des Dorfes schildert er die harte Wirklichkeit bäuerlichen Lebens. Duldend, passiv und gütig im Umgang mit anderen Menschen, aber auch als rückständig und abergläubig beschreibt er seine Mutter und zieht Parallelen zum einfachen Volk. Sie erträgt ständige Arbeit ohne Murren. Die Furcht seiner Mutter vor Veränderungen und das Bedürfnis nach Sicherheit läßt bei Kritikern die Annahme aufkommen, es handle sich um ein konservatives Buch, welches im Kontrast zu den damals vielfach geforderten gewaltsamen Veränderungen im politischen Bereich steht.
Oskar Maria Graf bleibt bis zu seinem Tod 1967 in New York. Er trug auch dort noch gelegentlich seine typischen Lederhosen und lehnte es ab, Englisch zu sprechen. Erst 1958 konnte er amerikanischer Staatsbürger werden, denn er verweigerte als Pazifist konsequent die im Eid enthaltene Bereitschaft zur "Landesverteidigung".
Mehrmals besuchte er für einige Wochen Deutschland und mußte feststellen, daß die Verantwortlichen für die faschistische Barbarei mit demokratischen Deckmäntelchen wieder fest im Sattel saßen und die altbekannte obrigkeitsstaatlichen Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden immer noch existierte. Er verachtete die engstirnige materielle Protzerei des bundesdeutschen Wohlstandsbürgers. Für den heimatverbundenen Schriftsteller Graf war dies Grund genug, die letzten 27 Jahre seines Lebens in den USA zu bleiben.
Heute sind seine Werke in zahlreichen preisgünstigen Taschenausgaben erhältlich. Besonders hervorzuheben sind jedoch die Büchergilde Gutenberg und der Süddeutsche Verlag, die in hervorragenden Editionen seit den 70er Jahren diesen bedeutenden Schriftsteller wieder einem größeren Leserkreis bekanntgemacht haben.
Anmerkungen
Insgesamt habe ich fünf Artikel über Oskar Maria Graf geschrieben. Hier sind vier Weitere einzusehen: "Oskar Maria Graf zum 100. Geburtstag" (Aus: "Naturfreunde", Nr. 4, 1994):
http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=24:oskar-maria-graf-zum-100-geburtstag&catid=13:literatur-und-politik
"Schuhplattler auf dem Vulkan. Oskar Maria Graf und die Sowjetunion" (Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 181, Oktober 1993)
http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=87:schuhplattler-auf-dem-vulkan&catid=13:literatur-und-politik
"(Nicht nur) Geschichten aus Backstube und Bauernhaus" (Aus: "Mahlzeit!", Juli 1992):
http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=99:nicht-nur-geschichten-aus-backstube-und-bauernhaus&catid=13:literatur-und-politik
"Der ewige Kalender" von Oskar Maria Graf. Aus: "Unabhängige Bauernstimme", Januar 1994
http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=98:der-ewige-kalender-von-oskar-maria-graf&catid=13:literatur-und-politik
Und zusätzlich noch der Leserbrief: "Oskar Maria Grafs Roman 'Der Abgrund'" vom 22. 9. 2000 in "junge Welt":
http://www.machtvonunten.de/leserbriefe.html?view=article&id=261:oskar-maria-grafs-roman-der-abgrund&catid=24:leserbriefe
1995 habe ich in "Graswurzelrevolution" Nr. 198 einen sehr ausführlichen Artikel über die Zeitschrift "Aufbau" geschrieben, in der Grafs jüdische Frau Mirjam Sachs Sekretärin war und in der er selbst auch einige Geschichten unterbringen konnte:
"60 Jahre 'Aufbau'. Eine deutschsprachige Zeitschrift der Juden und Jüdinnen in den USA"
http://www.machtvonunten.de/medienkritik.html?view=article&id=73:60-jahre-aufbau&catid=17:medienkritik