Aus: "Naturfreunde", Nr. 4, 1994

Aus:....

Oskar Maria Graf zum 100. Geburtstag

"'Oskar, wenn du Arbeiter bleibst, mußt du bei den Roten stehen. Rot ist unsere Fahne!' Fast dankbar schaute ich ihm ins Gesicht, denn noch nie hatte ein Mensch zu mir so gesprochen, und wenn ich auch das meiste nicht verstanden hatte - eigentümlich - , es überkam mich auf einmal ein Gefühl der Brüderlichkeit." Dieser ermutigende Zuspruch des sozialdemokratischen Bäckergesellen fiel bei dem kleinen Oskar Maria Graf auf fruchtbaren Boden.

Oskar Maria GrafAm 22. Juli 1894 als Sohn eines Bäckermeisters und einer Bauerntochter im Dorf Berg am Starnberger See in Bayern geboren, mußte er schon früh in der elterlichen Bäckerei mithelfen und war nach dem Tod seines Vaters den tyrannischen Attacken seines ältesten Bruders ausgesetzt. Erklärung und Schlußfolgerung des roten Gesellen leuchtete ihm ein: "Dein Bruder Oskarl‚ der ist so wie ein Kaiser im Kleinen. Aber damit erreicht er bei unsereinem nichts." Mit 17 Jahren floh er nach München. Obwohl ihm eine Karriere als Dichter vorschwebte‚ mußte er sich als Hilfsarbeiter durchschlagen. Erst allmählich konnte er als Schriftsteller Fuß fassen, indem hier und da eine Geschichte oder ein Gedicht von ihm gedruckt wurde.

Räterepublik in München

Als trinkfester Naturbursche und begabter Stegreiferzähler von deftigen Dorfgeschichten wurde er in der Münchener Boheme-Szene herumgereicht. Dem Militärdienst entzog er sich während des 1. Weltkrieges durch das Vortäuschen einer Geisteskrankheit. Als 1919 die Münchner Räterepublik ausgerufen wurde, lebte Graf in einer merkwürdigen Doppelexistenz. Einerseits war er begeisterter Anhänger der Sozialisten und Anarchisten, andererseits führte er ein ausschweifendes Leben und verpaßte fast alle Möglichkeiten, sich innerhalb der revolutionären Bewegung nützlich zu machen. Erst als es zu spät war und die Reaktion marschierte, erkannte er erschüttert: "Sie sind alle Hunde gewesen wie ich, haben ihr Leben lang kuschen und sich ducken müssen, und jetzt, weil sie beißen wollten, schlägt man sie tot. Wir sind Gefangene!" Dieses Bekenntnis sollte auch der Titel seines Buches werden, mit dem er 1927 als Schriftsteller international den Durchbruch schaffte.

 

Die RevolutionäreDer Opportunismus des Mittelstands

In seinen vielgelesenen Provinzgeschichten erweist er sich als sorgfältiger Beobachter des Dorflebens und vermittelt ein ungeschöntes Bild von der Wirklichkeit. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte Graf während der Weimarer Republik die Entwicklung nacht rechts und legte in seinem Spießerroman "Anton Sittinger" die Wurzeln für den grenzenlosen Opportunismus des Mittelstandes offen. In dem Roman zeigt Graf, daß diese Schicht sich durch vorauseilenden Gehorsam den jeweiligen linken, bürgerlichen oder rechten Machthabern anbiederte, um ihre Privilegien zu sichern. "Instinktiv hassen sie den sozial Benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zu unversöhnlichen Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer sozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten."

Als 1933 die NSDAP die Macht an sich riß, befand sich Graf auf einer Vortragsreise in Österreich. Mit Ausnahme von "Wir sind Gefangene" wurden seine Bücher von den Nazis jedoch nicht verboten, weil sie seine Bauerngeschichten für ihre Interessen ausnutzen wollten. Graf antwortete empört und vielbeachtet mit der Aufruf: "Verbrennt mich!"

Kritk an SPD und KPD

Von Brünn aus, was bis 1938 sein Exil bleiben sollte, hatte Graf große Schwierigkeiten, seinen Roman "Der Abgrund" zu veröffentlichen. In diesem politischen Familienroman arbeitete er die verhängnisvollen Fehlleistungen der beiden marxistischen Arbeiterparteien deutlich heraus und wies ihnen eine Mitschuld an der Machtergreifung Hitlers zu: Auf der einen Seite tatenloses Zusehen und abstrafen widerstandswilliger Genossen, ja sogar die Bereitschaft, Nazis in eine Koalitionsregierung aufzunehmen, auf der Anderen wurde die SPD zum Hauptfeind erklärt und in der kommenden Katastrophe nur eine Vorstufe zur kommunistischen Machtübernahme gesehen.

Linolschnitt von Johannes NawrathKein Wunder, daß SPD- und KPD-Funktionäre das Erscheinen dieses für sie unbequemen Romans verhindern wollten und, als dies nicht gelang, äußerst gereizt auf seine Veröffentlichung reagierten. Grafs Parteinahme für eine konsequente Einheitsfront von unten auf nahmen sie ihm übel. Nicht zufällig wurden in diesem Roman zum ersten Mal von Graf die Naturfreunde als positives Beispiel genannt. Durch sie kam der Held seines Romanes weit herum, erweiterte hierdurch seinen Horizont und konnte sich durch seine bei den Naturfreunden erworbenen Orts- und Bergsteigerkenntnisse vor den Nazis in Sicherheit bringen.

 

Reise in die Sowjetunion

Während seiner neunwöchigen Rußlandreise‚ die er 1934 als Delegierter zum "Unionskongreß der Sowjetschriftsteller" nach Moskau unternahm, fiel Graf sofort durch sein unkonventionelles Äußeres (kurze Lederhose, Janker, Kniestrümpfe und Hütel) auf und fand schnell Kontakt, sowohl zum einfachen Volk als auch zu Schriftstellern wie Gorki oder Pasternak. Eine regelrechte Freundschaft entwickelte sich über mehrere Jahre hinweg zu dem literarischen Avantgardisten Sergej Tretjakow. In dem erst nach seinem Tod veröffentlichten Buch "Reise in die Sowjetunion 1934" berichtete Graf aus einer erfrischend unvoreingenommen Sichtweise über Erfolge und Probleme in dem Sowjetstaat.

Exil in New York

1938 an seinem letzten Exilort in New York angekommen, unterstützte er - selbst am Existenzminimum lebend - tatkräftig deutsche Flüchtlinge und wurde Vorsitzender der German American Writers Association. Schnell freundete er sich mit der amerikanischen Lebensart an, die sich in seinen Augen positiv vom sektiererischen Gezänk der politischen Emigrantengruppen abhob. Bereits im Juli 1939 hielt er in Midvale (New Jersey) seinen ersten Vortrag über die Sowjetunion bei den Naturfreunden, deren Ehrenmitglied er an seinem 50. Geburtstag im Jahre 1944 wurde. Das nur eine Autostunde von Manhattan gelegene Naturfreundecamp in Midvale und der herzliche Kontakt zur dort lebenden deutschamerikanischen Familie Kirchmeier versöhnten Graf mit den Erschwernissen des Emigrantenlebens.

Oskar Maria GrafDen Kirchmeiers widmete er sein Buch "Er nannte sich Banscho". Es beschreibt den listigen und mit viel Humor geführten Kampf eines zugereisten Gelegenheitsarbeiters gegen die aufkommenden Nazis auf dem Land, wobei Banscho unverkennbar die Charakterzüge von Kirchmeier aufweist.

Grafs entschieden linksgerichtete Aktivitäten blieben während des Kalten Krieges in den USA nicht ohne Folgen. Er wurde Opfer bösartiger Verleumdungen und Denunziationen. Erst 1958 konnte er amerikanischer Staatsbürger werden, denn als Pazifist lehnte er die im Eid enthaltene Formel für die Bereitschaft zur Landesverteidigung ab. Versuche, in den USA seine Romane zu veröffentlichen und damit ein bescheidenes Auskommen zu sichern, gestalteten sich als schwierig. Lediglich sein Werk "Das Leben meiner Mutter" konnte neben einigen kleineren Geschichten in englischer Sprache gedruckt werden.

 

Artikel im "Aufbau"

AufbauIn den 40er und 50er Jahren schrieb Graf etliche Artikel für die auch heute noch in New York erscheinende deutsch-jüdische Wochenzeitschrift "Aufbau". Dort war seine jüdische Frau Mirjam beschäftigt und verdiente den Lebensunterhalt. Bis zu seinem Tod 1967 versuchte Graf immer wieder nach Deutschland zurückzukehren. Nur Münchens Oberbürgermeister Vogel bemühte sich, den ehemals verfemten Schriftsteller in seine Heimat zurückzuholen. Auf seinen mehrwöchigen Besuchen merkte Graf sehr schnell, daß er dem offiziellen Nachkriegsdeutschland nicht mehr willkommen war. Die Abneigung war beiderseitig.

SPD: Konsumverein mit Gewinnbeteiligung

Graf verachtete die engstirnige, materielle Protzerei des deutschen Wohlstandsbürgers und auch am "radikalsten, linkesten" Sozialdemokraten ließ er kein gutes Haar: "Sein sogenannter Sozialismus ist eine sehr nebulose‚ fast philantropisch-caritative Vorstellung und sein Endziel ist so etwas wie ein riesenhafter Konsumverein mit Gewinnbeteiligung der Mitglieder, die weiter nichts miteinander gemeinsam haben, als das gemeinsame Nutzinteresse."

OMG - JahrbuchHinzu kam, daß Graf - wenn er überhaupt wahrgenommen wurde - auch jetzt noch als bayrischer Provinzschriftsteller abgetan wurde. Daran war sicherlich die von ihm betriebene Selbstinszenierung mit Lederhose nicht ganz unschuldig. Seine Anteilnahme an den Ereignissen in der Sowjetunion und den USA, sein Protest gegen den Vietnamkrieg zeigen jedoch deutlich sein vitales Interesse an den aktuellen Entwicklungen in der ganzen Welt. In seinem Werk verarbeitete er diese Eindrücke und ging mit seinen Stadtgeschichten, dem utopischen Roman "Erben des Untergangs", den Spießerromanen und seiner kritischen Aufarbeitung der Ursachen des Faschismus weit über den enggesteckten Rahmen eines Provinzschriftstellers hinaus.

Als eigenständiger und unbequemer Denker schuf Graf ein im besten Sinn des Wortes autonomes Werk, das letztendlich in keine Schublade paßt und von niemandem ohne wichtige Einschränkungen vereinnahmt werden kann. In den 70er und 80er Jahren wurden seine Bücher von mehreren Verlagen wieder aufgelegt und von einer breiten Öffentlichkeit beachtet.

Wer sich einen Überblick über Grafs Werk verschaffen will, der ist mit "Das Oskar Maria Graf Lesebuch" aus dem List Verlag gut bedient, denn hier werden unter den Rubriken "Autobiographisches, Ländliches, Städtisches, Humoriges, Erotisches, Politisches, Literarisches" bemerkenswerte Kostproben seines Könnens geboten. Und wer es spezieller mag, für den hat der gleiche Verlag endlich das "Oskar Maria Graf Jahrbuch 1993" zum 100. Geburtstag des großen Dichters herausgegeben!

Anmerkung:

Ursprünglich hieß die alle zwei Monate erscheinende Bundeszeitschrift der Naturfreunde Deutschlands "Wandern + Bergsteigen", dann "Naturfreunde" und inzwischen seit etlichen Jahren "NaturfreundIn" mit Binnen-I. Die Auflage betrug in den 90er Jahren 77.000 Exemplare.

 

Insgesamt habe ich fünf Artikel über Oskar Maria Graf geschrieben. Hier sind die anderen Vier einzusehen:

"Schuhplattler auf dem Vulkan. Oskar Maria Graf und die Sowjetunion" (Aus: "Graswurzelrevolution", Nr. 181, Oktober 1993)

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=87:schuhplattler-auf-dem-vulkan&catid=13:literatur-und-politik

 

"(Nicht nur) Geschichten aus Backstube und Bauernhaus" (Aus: "Mahlzeit!", Juli 1992):

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=99:nicht-nur-geschichten-aus-backstube-und-bauernhaus&catid=13:literatur-und-politik

 

"Der ewige Kalender" von Oskar Maria Graf. (Aus: "Unabhängige Bauernstimme", Januar 1994):
http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=98:der-ewige-kalender-von-oskar-maria-graf&catid=13:literatur-und-politik

 

 "Oskar Maria Graf: Der Lackl vom Land" (Aus: "Bauernstimme", Januar 1992):

http://www.machtvonunten.de/literatur-und-politik.html?view=article&id=91:oskar-maria-graf-der-lackl-vom-land&catid=13:literatur-und-politik

 

Und zusätzlich noch der Leserbrief: "Oskar Maria Grafs Roman 'Der Abgrund'" vom 22. 9. 2000 in "junge Welt":

http://www.machtvonunten.de/leserbriefe.html?view=article&id=261:oskar-maria-grafs-roman-der-abgrund&catid=24:leserbriefe

 

Zehn Jahre "Aufbau"!1995 schrieb ich in "Graswurzelrevolution" Nr. 198 einen sehr ausführlichen Artikel über die oben genannte Zeitschrift "Aufbau":
"60 Jahre 'Aufbau'. Eine deutschsprachige Zeitschrift der Juden und Jüdinnen in den USA"
http://www.machtvonunten.de/medienkritik.html?view=article&id=73:60-jahre-aufbau&catid=17:medienkritik